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„Weihnachten ist für mich weg.“

Irma Haller wurde von Schicksalsschlägen nicht verschont.
Irma Haller wurde von Schicksalsschlägen nicht verschont. ©Willi Rupp
Irma Haller - aus dem bewegten Leben einer Südtiroler Optantin.
Weihnachten ist für mich weg

Sie heißt Irma und sie ist meine Nachbarin. 1980 wurden wir Nachbarn. Der Zaun zwischen unseren Gärten war desolat. „Ich brauche keinen Zaun“, sagte ich zu Frau Haller, damals sagten wir noch „Sie“ zueinander. Nach kurzer Zeit – ich weiß nicht mehr wann – wurde das „Du“ daraus. „Ich auch nicht“, antwortete sie. Wir entfernten den Maschendrahtzaun und seither gibt es zwischen unseren Gärten nur mehr eine imaginäre Grenze. Unsere Kinder wurden in beiden Gärten und in beiden Häusern groß. Wenn ich eine Abkürzung machen will, nehme ich heute noch manchmal den Weg durch Irmas Garten. Das hat Irma früher auch so gemacht. Heute nicht mehr. Seit sie einen „Rollator“ benötigt, geht sie nur noch auf der asphaltierten Straße.

Die Geschichte handelt jedoch nicht von unserer Nachbarschaft sondern vom Leben, vom Schicksal einer jungen „Optantin“, die sich 1940 für ein Leben im „Großdeutschen Reich“ entschied. Wie 75.000 andere Südtiroler verließ sie ihre Heimat.

Irma Kritzinger, so hieß sie vor ihrer Hochzeit, wurde am 29. April 1926 als jüngste Tochter des Michael und der Katharina Kritzinger in Kastelruth geboren. Irma litt unter der „italienischen“ Schule: „Wir durften in der Schule weder Deutsch lesen, schreiben oder sprechen. Schließlich musste ich zu einem Bauern nach Terlan, wo ich als Kindsmagd auf einen zweijährigen Buben zu schauen hatte.“ Die Entscheidung zu „optieren“ ging nicht von Irma aus, denn sie war zu diesem Zeitpunkt erst 14 Jahre alt. Das entschieden ihre Eltern, die sich mit zwei ihrer drei Töchter auf den Weg nach Nordtirol machten. Die älteste Tochter hatte zu diesem Zeitpunkt Südtirol bereits verlassen.

1940 kam Familie Kritzinger nach Seefeld/Nordtirol. „Mir gefiel es hier sehr gut. Wir waren in einem Gasthof untergebracht. Ich wollte in die Schule gehen, aber da ich weder Deutsch lesen oder schreiben konnte, durfte ich nicht. Mein Vater musste jeden Tag nach Innsbruck zur Arbeit, was auf die Dauer doch sehr anstrengend war. So kamen wir 1942 nach Vorarlberg.“

Neue Heimat
„Wir landeten in Bezau. Mein Vater musste dort Schneeschaufeln. Nach 14 Tagen kamen wir nach Bregenz und erhielten dann in der Südtirolersiedlung in Lochau eine Wohnung. Mein Vater fand bei Kunsttischler Gaudl Arbeit.“ Irma – mittlerweile 16 Jahre alt – musste ihr „Pflichtjahr“ antreten. So führte sie den Haushalt beim Ehepaar Gaudl. Da diese jedoch kinderlos waren, musste sie zu Zimmermeister Josef Fink in Lochau/Tannenbach. Frau Fink war oft krank und verbrachte insgesamt 2 Jahre lang im Krankenhaus Dornbirn sowie im „Jesuheim Oberlochau“. So war die 16-jährige Irma für die drei Fink-Kinder „rund um die Uhr“ da. Frau Fink gebar ihr viertes Kind, als der Einmarsch, die Befreiung durch die Franzosen bevorstand.

Zwei Tage musste verbrachte Irma mit den Fink-Kindern auf dem Haggen in Lochau. „Als geschossen wurde, fanden wir in einer Art Höhle beim Grünegger Unterschlupf. Nach der Befreiung ging ich mit den 3 Kindern Richtung Lochau-Tannenbach. Mitten im Wald kamen uns 4 Marokkaner entgegen. Mir stockte der Atem. Doch es passierte uns glücklicherweise nichts.“

Am 1. August 1949 trat Irma in die Firma Sannwald ein, wo sie als Weberin angelernt wurde Im Sommer 1952 begegnete Irma in der Milchhalle Lochau Franz Haller einem jungen Niederösterreicher, der damals in der Drahtbürstenfabrik Homan in Lochau arbeitete. 1954 wurde geheiratet und 1955 zog das junge Ehepaar in die Vogewosi-Siedlung Gartenstraße in Hörbranz ein. geboren.

Schreckliche Weihnachten
Am 10.April 1957 schien das Familienglück vollkommen zu sein: Tochter Christa wurde geboren. Doch ein erster Schatten legte sich über das Arbeiter-Ehepaar, denn die kleine Christa hatte Herzprobleme. „Mein Mann Franz liebte Christa über alles.“ Kurz vor Weihnachten musste Christa ins Krankenhaus Bregenz. Dort hieß es, es gehe ihr gut. „Das Kind ist immer so fröhlich“, sagte ein Arzt. Franz Haller ging in den kleinen Gemischtwarenladen Rosa Ritter in Lochau, um eine Flasche Wein für Weihnachten zu holen. Auf dem Heimweg fuhr ihm Herr Ritter auf dem Motorrad nach und sagte, man habe angerufen, dem Kind gehe es schlecht. Im Krankenhaus angekommen, musste die Eltern das Sterben ihres Kindes erleben. Christa, gerade 8 Monate alt, starb am 23. Dezember um 19.15 Uhr. Dr. Grass stellte als Todesursache Endomyokarditis (Entzündung der Herzinnenhaut und des Herzmuskels) fest.

Am Heiligabend, 24. Dezember 1957, vermerkte Stadtarzt Dr. Wilhelm Kiene im amtlichen Totenschein: ,Die Überführung der Leiche wird nach Hörbranz ärztlicherseits bewilligt.’ „Es war schrecklich“, so Irma Haller, „die kleine Christa lag aufgebahrt unter dem Christbaum. Zudem hatte ich große Angst um meinen Mann, den es furchtbar getroffen hatte. Seit dieser Zeit habe ich keinen Christbaum mehr herrichten können. Das kann ich heute noch nicht. Weihnachten ist für mich weg. Bei der Beerdigung ging der Leichenzug von der Gartenstraße drei Kilometer weit bis zum Friedhof. Vier Buben trugen das kleine Särglein.“

Auch heute, 54 Jahre danach, gerät Irma ins Stocken. Ich merke, dass es ihr schwer fällt, darüber zu sprechen. Doch zu jenem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, welche Prüfungen das Schicksal ihr die nächsten Jahre auferlegen würde.

Weitere Schicksalsschläge
Irma wurde wieder schwanger. Als sie hochschwanger war, spürte sie eines Tages die Bewegungen des Kindes nicht mehr. „Als ich dann im Krankenhaus Bregenz mein totes Kind auf die Welt bringen musste, weinte sogar der Arzt“, erklärt Irma. In den kommenden Jahren folgten noch zwei weitere Fehlgeburten. „Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann das alles genau war“, sagt Irma. Und ich als „Außenstehender“ spüre, dass ich gar nicht nachfragen will. „Wenn ich manchmal so allein auf der Couch sitze, geht mir alles wieder durch den Kopf. Besonders auch der unerwartete Tod meines Mannes.“

1962 und 1964 gebar Irma zwei Töchter. Das Familienleben nahm seinen Lauf und der Alltag hielt Einzug. „Franz konnte es gut mit den Kindern. Es war eine glückliche Zeit – bis zum 5.Mai 1969. An diesem Tag starb Franz! Wir hatten seine Eltern in Niederösterreich besucht und waren auf der Heimreise. In Salzburg bei seiner Cousine kehrten wir zu. Dort starb er ganz plötzlich an Herzversagen.“ Zu Hause hatte er noch einen 2 Meter tiefen Kanal gegraben, der ihm mehrmals nachgerutscht war. „Ich denke, dass er sich schon vor der Reise überanstrengt hat“, erklärt Irma, „und ich sagte noch: Lass die Graberei sein.“

In dem Moment als Irma verstand, dass ihr Mann tot war, zog es ihr den Boden unter den Füßen weg. „Ich fuhr wie betäubt mit dem Zug nach Hause. Dort wussten die Nachbarn bereits, was geschehen war. Bürgermeister Flatz aus Hörbranz holte Gewand aus dem Haus, damit Franz für den Sarg angezogen werden konnte.“ Für diese Zeit gibt es große Lücken in Irmas Erinnerung.

Das Leben geht weiter
Ihre zwei kleinen Töchter brauchten Irma, mehr denn je. Mit 500 Schilling Witwenpension war nur ein sehr bescheidenes Auskommen zu finden. „Ich kaufte nur das, was ich wirklich brauchte. Es waren sehr schwere Jahre. Mein Schwiegervater war ein patenter Mann. Er half mir finanziell und sagte: ,Mach keine Schulden. Hier hast du 20.000 Schilling. Dann geht es dir besser.’ Ich befolgte seinen Rat, war sehr sparsam und vermietete von Mai bis August Gästezimmer. Zudem arbeitete ich jeden Tag einige Stunden bei Metzeler in Lindau als Putzfrau. Ich hatte kein Auto, kein Moped, nur ein altes Fahrrad.“

„Wenn ich zurück denke, war es ein großes Glück, dass ich in all den Jahren, als meine Kinder klein waren, kein einziges Mal krank war. Die Kinder hätten niemand gehabt, wenn mir damals etwas passiert wäre.“ Mittlerweile sind die beiden Töchter erwachsen. Eine Tochter wohnt bei Irma im Haus. Auch ein erwachsener Enkel fühlt sich in Omas Haus wohl. Die andere Tochter, der Schwiegersohn und drei Enkelinnen kommen gerne zu Besuch.

Das Glück hat sich Irma wieder zugewendet. Aber die Erinnerungen an die schrecklichen Ereignisse lassen sie nicht los. Weihnachten ist für Irma immer eine besonders schwere Zeit. Das Schicksal hat ihr viel von ihrer Fröhlichkeit, von ihrem Lachen genommen. Doch Irma hat alle Schicksalsschläge gemeistert.

Irma ist eine starke Frau. Das Leben hat sie geprägt. Irma ist meine Nachbarin. Und ich bin froh darüber.

Willi Rupp

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