AA

"Wenn nur eine Person abgehalten wird, hat es sich gelohnt"

Die Brücke zwischen Lingenau und Großdorf ist unverbaut. Auch hier gab es bereits einige Suizid-Fälle. Ob zukünftig gefährdete Menschen aufgrund der Verbauung auf diese Brücke ausweichen werden oder dies bereits getan haben, kann nicht bewiesen werden – die Exekutive hat dazu keine konkreten Zahlen. Fakt ist dennoch, dass es bereits zu Suiziden zwischen Lingenau und Großdorf seit Verbauung gekommen ist.
Die Brücke zwischen Lingenau und Großdorf ist unverbaut. Auch hier gab es bereits einige Suizid-Fälle. Ob zukünftig gefährdete Menschen aufgrund der Verbauung auf diese Brücke ausweichen werden oder dies bereits getan haben, kann nicht bewiesen werden – die Exekutive hat dazu keine konkreten Zahlen. Fakt ist dennoch, dass es bereits zu Suiziden zwischen Lingenau und Großdorf seit Verbauung gekommen ist. ©W&W/Schmidinger
Vor zwei Jahren wurde die Lingenauer Hochbrücke aufgrund hoher Suizid-Raten mittels Gitter verbaut. Drei Kilometer weiter befindet sich die Hochbrücke zwischen Lingenau und Großdorf, die weiterhin unverbaut ist.
Gitter gegen Brücksuizide

Straßenamtsleiter Karl-Heinz Rüdisser im Gespräch über die aktuelle Situation und den Nutzen der Verbauung.

WANN & WO: Die Hochbrücke zwischen Müselbach und Lingenau wurde 2011 verbaut – können Sie die Gründe bzw. den Auslöser dafür erläutern?

Karl-Heinz Rüdisser: Im Zeitraum von 1988 bis 2006 haben sich insgesamt 17 Personen durch einen Sprung von der Lingenauer Hochbrücke das Leben genommen. Auf Grund der vergleichsweise hohen Zahl an Selbsttötungen ist die Lingenauer Hochbrücke als problematischer Ort – sogenannter Hotspot – zu beurteilen, der sogar auf einschlägigen Internetforen beworben wurde. Solche Orte weisen nach den Erkenntnissen der Wissenschaft eine Eigendynamik auf. Nach den Ergebnissen verschiedener Untersuchungen kann durch eine Absicher-ung mit baulichen Maßnahmen eine deutliche Reduzierung von Suizidversuchen erreicht werden. Aus diesem Grund wurden für die Lingenauer Hochbrücke solche Maßnahmen vorgeschlagen. Nach eingehender Diskussion der Problematik mit der Exekutive, Vertreter der Gemeinde sowie Experten haben wir uns für die Durchführung solcher Maßnahmen entschlossen.

WANN & WO: Was hat sich seit dieser Verbauung getan – ist die Suizid-Rate rückläufig geworden?

Karl-Heinz Rüdisser: Mit der An-bringung der Suizidsicherung konnte die Situation deutlich verbessert werden, eine absolute Sicherung ist allerdings nicht möglich. Und wenn wir nur eine Person vom Suizid abhalten konnten, hat sich die Absperrung gelohnt!

WANN & WO: Hat es seit der Verbauung keinen Suizid-Fall mehr gegeben?

Karl-Heinz Rüdisser: Leider haben sich seit der Verbauung zwei Menschen mit einem Sprung in die Tiefe das Leben genommen. Aus diesem Grund werden allfällige Verbesserungsmaßnahmen noch einmal geprüft, eine absolute Sicherung ist aber wie bereits gesagt nicht möglich. Trotz dieser zwei tragischen Fälle ist die Verbauung absolut sinnvoll.

WANN & WO: Drei Kilometer weiter steht die Hochbrücke zwischen Lingenau und Großdorf – wurde hier über eine Verbauung diskutiert?

Karl-Heinz Rüdisser: Es wurde bereits im Zuge der Prüfung der Sicherungsmaßnahmen für die Lingenauer Hochbrücke klargestellt, dass nicht jedes Brückenbauwerk gesichert werden kann. Eine Sicherung der Brücke zwischen Lingenau und Großdorf wurde auch nicht thematisiert und steht auch nicht in Planung. Nach Rücksprache mit der Polizeiinspektion in der Region wurde auch bestätigt, dass es zu keiner Problemverlagerung gekommen ist und es keine vermehrten Suizidfälle auf der Brücke zwischen Lingenau und Großdorf gegeben hat.

WANN & WO: Wie sinnvoll ist es, eine Brücke zu verbauen, wenn eine andere in unmittelbarer Nähe offen steht?

Karl-Heinz Rüdisser: Wie den Ausführungen zur ersten Frage zu entnehmen ist, handelt es sich bei Lingenauer Hochbrücke um einen besonders problematischen Ort, der Sicherungsmaßnahmen aus diesem Grund rechtfertigt. Wie die Erfahrungen gezeigt haben, war es jedenfalls sinnvoll diese Maßnahme zu treffen. Es ist auch zu keiner Problemverlagerung gekommen.

Expertenmeinung von Primar Reinhard Haller:

„Suizid ist ein sehr sensibles Thema, besonders wenn es medial behandelt wird, denn ein Werbe-Effekt ist bei psychisch schwachen Menschen sehr schnell vorhanden. Ich war bei der Thematik Hochbrücke Lingenau mit im Experten-Team. Diese Brücke war ein Hotspot für Lebensmüde und weit über die Grenzen Vorarlbergs hinaus bekannt. Sie wurde auch in einschlägigen Foren angepriesen und übt somit eine starke Anziehungskraft für Menschen mit psychischen Problemen aus. Es gab derartige Fälle bereits in anderen Bundesländern, die mit einer Verbauung die Suizid-Raten deutlich vermindern konnten. Uns allen war natürlich klar, dass mit einer Verbauung eines Hotspots, der bis dahin in Lingenau war, ein anderer Ort an Attraktivität gewinnt und damit zu einem neuen Hotspot werden kann. Dies ist nach meinem Wissen jedoch nicht der Fall gewesen bzw. sind die Zahlen auf der Brücke zwischen Lingenau und Großdorf nicht gestiegen.“ Einsamkeit und Isolation „Suizidierende handeln oftmals im Affekt, meist ist es nur eine kurze Zeit, in der sie sich in einem dunklen Tunnel befinden und keinen Ausweg mehr sehen. Stehen sie dann vor einer Brücke, die unüberwindbar ist, kann dies dazu führen, dass ihre Gefühle sich verändern und es zu keiner Affekthandlung kommt – genau das soll diese Verbauung auch bewirken. Dass jemand in diesem Gefühlschaos dann wieder ins Auto steigt und zur nächsten Brücke fährt, halte ich für äußerst selten. Wenn man selbst einmal in die Situation gerät, dass man jemanden auf der Brücke stehen sieht, sollte man umgehend stehen bleiben und die Person ansprechen. Menschen mit Problemen, die sich das Leben nehmen wollen, fühlen sich isoliert und alleine. Sie haben meist keine Person, mit der sie über ihre Belastung sprechen können. Durch einfaches Ansprechen konnten somit schon zahlreiche Menschenleben gerettet werden – auch auf Brücken. In unserer Gesellschaft ist viel mehr Zivilcourage gefordert. Suizid soll kein Tabu-Thema sein!“

Wilhelm Metzler, Bergrettung Hittisau:

„Die Bergrettung wird gerufen, um Personen unter den Brücken zu bergen. Bei diesen Einsätzen sind nur langjährige Bergretter dabei. Jung-Bergretter werden ausgenommen, da die Einsätze teils mit großen psychologischen Belastungen verbunden sind. Die Einsatzkräfte haben bei uns immer die Möglichkeit, das Gesehene mit professionell geschulte Menschen zu verarbeiten. Man kann nicht einschätzen, wie viele Menschen durch die Verbauung bereits vom Suizid abgehalten wurden. Die Suizid-Zahlen sind bei der Brücke zwischen Großdorf und Lingenau meines Wissens nach der Verbauung nicht gestiegen.”

Chris Alge, High 5 Lingenau:

„Wir bieten seit Jahren Bungee-Sprünge von der Brücke zwischen Lingenau und Großdorf an. Die Verantwortlichen haben mit der Verbauung einen Fehler gemacht, weil sie so den Tod vor das Leben stellen – allgegenwärtig – für jeden immer sichtbar. Unsere Brücken sind fantastische Bauten großer Ingenieure, an denen man sich erfreuen kann, so aber werden diese entstellt. Das ist nicht der Ausdruck der Lebensfreude der Vorarlberger, es ist genau das Gegenteil.”

Hier die ganze WANN & WO-Ausgabe online lesen

home button iconCreated with Sketch. zurück zur Startseite
  • VOL.AT
  • Vorarlberg
  • "Wenn nur eine Person abgehalten wird, hat es sich gelohnt"