AA

"tauberbach" lieferte einen würdigen Auftakt für das ImPulsTanz-Festival

Der Tanz auf der Müllhalde bei "tauberbach".
Der Tanz auf der Müllhalde bei "tauberbach". ©Julian Röder / JU-OSTKREUZ
Am Donnerstagabend feierte "tauberbach" im Rahmen des ImPulsTanz-Festivals Österreich-Premiere. Das Stück sucht das Schöne in der Hässlichkeit, der belgische Starchoreograf Alain Platel wählte eine Müllhalde als Handlungsort.
Interview mit Alain Platel
Heinz Fischer bewies Rhythmusgefühl

Als “Metapher für vieles, was auf der Welt passiert” beschrieb Platel im Vorfeld die Koproduktion seiner Compagnie mit den Münchner Kammerspielen, die bei ihrer Premiere im Jänner bejubelt und als eines der zehn “besonders bemerkenswerten” deutschsprachigen Theaterstücke zum diesjährigen Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. “tauberbach” zugrunde liegen Marcos Prados Dokumentarfilm “Estamira” (2004) über eine Frau, die auf einer Müllhalde bei Rio de Janeiro lebt, sowie das Projekt “Tauber Bach” des polnischen Künstlers Artur Zmijewski, der 2002 einen Chor von Gehörlosen und Schwerhörigen die Kantate Johann Sebastian Bachs “Jesu, der du meine Seele” in der Leipziger Thomaskirche singen ließ.

Eine Müllhalde im Wiener Volkstheater

Estamiras entrückte Welt ist an diesem Abend im Volkstheater förmlich greifbar: Ein Nebel hängt über dem Meer an Kleidung, Fliegensummen ist zu hören, fünf hemmungslose, in Fetzen gekleidete Wesen wühlen sich durch den Müll, klettern über zwei sich hebende und senkende Gerüstplanken, lassen sich fallen und geben abwechselnd Laute in die von der Decke herabhängenden Mikrofone von sich. Sie scheinen eins mit der schmutzigen, trostlosen Umgebung, scheinen ihren Bezug zur Zivilisation verloren zu haben.

Anders als Estamira: Mittendrin und doch distanziert steht sie im Chaos, spricht in Fantasiesprache mit den Stimmen in ihrem Kopf und in bestimmtem, lautem Ton mit einer Computerstimme über ihr. “Essensknappheit? Es gibt keine Essensknappheit. Wer das behauptet, ist ein Lügner und faul”, sagt sie. Immer wieder wird sie dem autoritären Nichts widersprechen, es tadeln und beschimpfen. “Fuck off. Mein Ohr ist kein Klo”, flucht sie. “Die Leute sollten mehr darauf achten, was sie haben und was sie benutzen. Ohne es zu sein, ist furchtbar”, spricht es dann überlegt aus ihr. Im Gegensatz zu ihren sprachlosen “Mitbewohnern” versucht sie, wachsam zu bleiben, sich ihre Würde zu bewahren, sich zu rechtfertigen. Dazu immer wieder der Leitsatz aus dem Off: “Stay in control.”

Lob für Chor und Tänzer bei “tauberbach”

Die renommierte Schauspielerin Elsie de Brauw gibt den Überlebenskampf Estamiras, der schließlich im herbeigesehnten Feuer und der endgültigen Aufgabe gesellschaftlicher Codes enden wird, einnehmend. Ihr ebenbürtig sind die fünf Tänzer und Tänzerinnen, die in verstörender, grober, sexuell aufgeladener Interaktion zeitweise kaum von Tieren zu unterscheiden sind, um dann ruckartige, spastische Bewegungen mit purer Anmut und beeindruckender Körperspannung zu brechen. Wunderschön die Momente, in denen die Zeit still zu stehen scheint, und sie die verschobenen, rein auf Emotion heruntergebrochenen Chorgesänge der Gehörlosen tänzerisch interpretieren – mal ausufernd gemeinsam, dann zaghaft alleine. Oder wenn sie zusammen mit de Brauw innehalten, sich im Müllberg niederlassen und harmonisch einen Choral Bachs summen.

Platel fordert sein Publikum

Platel fordert seine Zuseher aber vor allem dann, wenn seine Tänzer Klischeebilder geistig beeinträchtigter Menschen vor Augen führen – wenn sie sich unkontrolliert auf den Boden werfen, sich wälzen, die Hand in den Mund stecken, unverständliche Laute von sich geben, sich ineinander verschränken und gegenseitig beschmieren. An einem Punkt postieren sie sich einzeln neben Estamira am vorderen Bühnenrand, verkleiden und präsentieren sich, lachen naiv und fallen schließlich über die unbeeindruckte Estamira her, ziehen sie an den Haaren, zerren sie über die Bühne. Was wie das Zurschaustellen von Behinderten als Abnormitäten aus früheren Jahrhunderten anmutet und zeitweise schwer erträglich ist, ist für Platel der Ansatz, eine andere Art des Zuschauens und Zuhörens zu fördern: Der studierte Orthopädagoge, der sich eingehend mit der Behandlung von Menschen mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung beschäftigt hat, nahm seine Tänzer als Vorbereitung in ein Heim für schwerbehinderte Kinder mit, wie aus dem Programmheft hervorgeht.

Würdiger Auftakt für das ImpulsTanz-Festival

Der 55-Jährige will seine Arbeit als gesellschaftliches Statement verstanden wissen. “Diese rückschrittliche Tendenz, die am meisten von nationalistischen Parteien in Europa verfolgt wird, irritiert mich stark und macht mich traurig”, meinte er kürzlich im Interview mit der APA. “Ich kann nicht daran glauben, dass wir zu einem mittelalterlichen Denken zurückkehren wollen. Man erfindet wieder neue Grenzen, neue kulturelle Unterschiede und Abgrenzungen. Das kann ich überhaupt nicht verstehen.” Dem setzt er mit der schizophrenen, und doch philosophisch denkenden Estamira einen außergewöhnlichen Menschen entgegen, der in Würde unter widrigsten Umständen lebt. Und gestaltet damit einen ungewöhnlichen, etwas langwierigen, aber nichtsdestotrotz mit langem, kräftigem Applaus goutierten, würdigen Auftakt zu einem Festival, das ganz bewusst den Finger in die Wunden unserer Zeit legen will. (APA)

home button iconCreated with Sketch. zurück zur Startseite
  • VOL.AT
  • Kultur
  • "tauberbach" lieferte einen würdigen Auftakt für das ImPulsTanz-Festival