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Substanz

"Wertschöpfung durch Weiterentwicklung: das Miteinander ist das Entscheidende." (Armin Berchtold, Bgm. Schwarzenberg)
"Wertschöpfung durch Weiterentwicklung: das Miteinander ist das Entscheidende." (Armin Berchtold, Bgm. Schwarzenberg) ©Darko Todorovic
Warum dieses alte Haus? Weil es meiner Kindheit Raum gab, wo ich selbstverständlich wusste: wenn ich rufe, hört mich jemand.
"Alte Bausubstanz"

So sagt’s einer im Schopf seines Bregenzerwälder Hauses, wohin er nach Jahren der Wanderschaft zurückgekehrt ist und das er seither für die Bedürfnisse der Seinen herrichtet. Sichtbare Veränderungen, die dem Bild der langen Zeit, die dieses Haus auf dem Buckel hat, nichts anhaben. Ist es 100, 200 Jahre alt? Sind Teile verändert, ist’s das Ganze? Derart exakte Auskünfte verweigert das Haus. Das passt nicht schlecht zu der Antwort: Ein Raum, der meine Rufe hört.

Das trifft das Herz der Sache – macht es doch deutlich, dass bei all den vielen rationalen Gründen, sich mit einem solchen Objekt zu beschäftigen, es doch zuallererst emotionale Gründe sind, die dazu bewegen. Und das heißt: ein Bündel an Beweggründen, die zu einem organischen Bund – dem Gefühl eben – verwoben sind, so wie ein solches Haus nicht eine Summe ist von Funktion, Konstruktion, Technik und noch mehr, sondern: ein organisches Ganzes.

Eine Erfahrung, die im Zentrum des Projekts „Alte Bausubstanz“ steht, das sich des Baubestandes im Bregenzerwald angenommen hat. Dass nämlich die emotionale Beziehung zum Haus an erster Stelle kommt – vielfältige Beziehungen und ein Zusammenspiel unterschiedlichster Aspekte. Das kennzeichnet Kultur im Allgemeinen und Baukultur im Besonderen – wie der stete Wandel, zunehmend jedoch beschleunigt, mit Brüchen und hoher Brisanz für den Siedlungsraum, das Landschaftsbild, das Miteinander der Generationen und das Soziale.

Darauf antwortete man in Schwarzenberg mit einer Bestandserhebung „nicht bzw. minder genutzte Bauten“ durch Raumplaner Markus Berchtold. Infolge der Weltkulturerbe- Diskussion 2005 wurde dieser empirische Zugriff auf den gesamten Bregenzerwald ausgedehnt, ab 2007 erhielt das Projekt den Namen und institutionellen Rahmen „Alte Bausubstanz“ mit Beteiligung sämtlicher Gemeinden, mit Förderungen durch Land und EU, mit eigener Geschäftsführung (Urs Schwarz, gefolgt von Daniela Kohler) und dem „Projektgötte“ Bürgermeister Armin Berchtold.

Die umfassende Bestandserhebung ermittelte ungefähr 1000 Objekte – leerstehend, unterbelegt, vom Verfall bedroht. In der Summe eine Wohnfläche, die – gleiche Dynamik wie derzeit vorausgesetzt – den Wohnbedarf der nächsten 25 Jahre decken könnte. Das würde bedeuten: Wenig Ressourcenverbrauch für Baumaßnahmen, keine Landverbrauch, kein Aufwand für zusätzliche Infrastruktur für Verkehr und Soziales. Eine Menge rationaler Gründe, die für Erhalt und Weiternutzung sprechen. Der Wandel kultureller Standards – das Eigenheim für jedermann – steht dem gegenüber. Dazu kommen höhere technische Standards und gehobene Ansprüche an Wohnkomfort. Dass all das im Baubestand gelingen kann, belegen mittlerweile zahlreiche gestalterisch höchst ansprechende und technisch gelungene Sanierungen. Dennoch: Kaum Bewegung vom ruinösen Leerstand zur Weiternutzung. Weshalb wollte der Wind sich nicht drehen?

In Kongressen, Workshops, umfassenden Beratungen und Studien ging die Initiative „Alte Bausubstanz“ dieser Frage nach. Und kam zu dem Ergebnis: Eigentumsfragen, Generationenfolge und Erbschaft, Baurecht, Fragen der emotionalen Bindung ans Haus, der Mentalität – das wird unterschätzt. Zugespitzt: Nicht der finanziell-technische Komplex ist das Problem, sondern der juristisch-kulturelle.

Da setzt „Alte Bausubstanz“ an mit: Beratung durch die Gemeinden, Offenheit der Ämter, Toleranz bei Rechtsfragen und: mit der Entwicklung eines geistigen Milieus, das der Weiterverwendung zugetan ist, den Bestand zu schätzen weiß, Weiterbauen als Qualität anerkennt. Soll all das gar eine wälderische Tugend sein? „Höhere Wertschöpfung beim Weiterbauen: das braucht handwerkliches Können – das ist gerade hier fast unbegrenzt da. Kultur, Kompetenz, Kosten – das Miteinander ist das Entscheidende“, bringt Bürgermeister Berchtold es auf den Punkt, „die Kultur der Gemeinde.“

Nach acht Jahren schließt die Initiative das erste Kapitel mit einem Schlussdokument, das zwei Dutzend gelungene Projekte vorstellt und einen Leitfaden zur Sanierung bereitstellt. Ausführlich werden Fragen des Eigentums, der Zielsetzung, der Finanzierung, der Bestandsaufnahme, des Entwurfs, der Abstimmung mit Behörden, der Bauabwicklung und der handwerklichen Qualität erörtert und für Bauwillige aufbereitet.

Besuche der Objekte und Gespräche mit den Bewohnern ergeben: Direkte Hilfeleistungen wurden gar nicht so sehr in Anspruch genommen – da weiß man sich selbst zu helfen, zumal einige Sanierungen über eine lange Zeit gehen. Doch insgesamt sieht man sich auf dem Weg bestätigt, erfreut sich der öffentlichen Anerkennung, zunehmender Nachfrage Interessierter. Und auf einmal stellt man fest: Der Wind hat sich doch gedreht – ein wenig oder gar deutlich mehr?

Ganz deutlich jedenfalls für Familie Metzler. Nimmt man die schmale Straße von Egg zur Lorena hinauf, so kommt man an ihrem Anwesen vorbei. Nach Aufgabe der Landwirtschaft und zehn Jahren Leerstand des Wirtschaftsteils entschließt sich die Familie 2011, diesen Teil durch einen Neubau in den Maßen des Vorgängers zu ersetzen nach Plänen von Architekt Walter Beer. So wird möglich, dass heute die Tante im alten Wohnhaus und die Jungen im großzügigen und heutigen Standards entsprechenden Wohnhaus unter einem Dach leben – ergänzt durch gut gehende Gästewohnungen: bei traumhafter Sicht auf Schwarzenberg und Kanisfluh, Bergruhe und kurzen Wegen ins Dorf nicht verwunderlich. Wichtig: Jedem sein eigener Bereich. „Total gelungen“, nennt die junge Hausherrin Caroline Metzler die neue Heimat, „sogar im Winter bekommen wir regelmäßig Besuch.“

Über den Pass hinüber liegt nahe Alberschwende der alte Hof von Birgit Fiel und Reinhold Knapp mit ihren beiden Kindern – vor drei Generationen noch bewirtschaftet, ab den 50er-Jahren Ferienwohnung, dann Leerstand und totgeweiht – dem zunehmenden Verkehrslärm der nahen Hauptstraße geschuldet. Als verrückt galten die jungen Bauherren zu Beginn. „Wir haben das Haus umgedreht“, so Birgit Fiel, „und dadurch Wohnqualität gewonnen – mir scheint’s das schönste Haus. Nur Denkmalschutz: das geht gar nicht, aber behutsam damit umgehen, das ergibt einzigartige Qualität – wo früher der Misthaufen war, ist heute unser Panoramaplatz.“ Die Änderungen der Räume sind genau bedacht: Etwa die Absenkung des Erdgeschoßbodens, oder der erhöhte Essplatz unter dem talseitigen Vordach. Stimmig wechseln alte Baustoffe mit neuen. Geplant hat der Bauherr (und Innenarchitekt) Reinhold Knapp das Haus mit viel Zeit „und immer noch gibt es Zukunftspotenzial dank des großen Hinterwerks.“ Ganz anders die Ausgangslage für die junge Familie Waldner in Egg: Das Wohnhaus der Eltern mit einem Ferienbetrieb aus den 60er-Jahren war sanierungsbedürftig, die junge Familie auf der Suche nach eigenen vier Wänden. Diesen Wunsch den Eltern nahe zu bringen nahm Zeit in Anspruch, doch heute sind sie überzeugt, dass der Abbruch der Garagen, der Bau einer neuwertigen eigenen Wohnung mit großen Loggien unter einem gemeinsamen Dach mit genau begrenzten Eigentumsbereichen die richtige Lösung war. Mit der Präzision des Fachmanns vom Bauherrn selbst ausgeführt und beraten durch den Gestaltungsbeirat mit den Architekten Dietrich und Lenz entstand ein Bau von typischer Wälder- Silhouette.

Bis zum 18. Lebensjahr hier aufgewachsen, dann ebenso lange in die Welt und nun schon fast wieder gleichlang in diesem alten Bauernhaus zuhaus: so beschreibt Martin Geser seinen Weg. Ein lebhaftes Haus mit Frau Erika, dem Sohn und der alten Mutter, den Tieren eines Bauern – „Umgang mit Wetter, Zeiten und Tieren“ gibt dem akademischen Alltag der beiden Würze. Ungewiss, wann das Umbauen an dem alten Haus begann, doch gewiss ist, dass ab 1980 die jetzigen Bewohner begannen, zunächst mit dem Schopf, dann einer Kellersanierung, ab Mitte der 1990er-Jahre dann dem Wohnhaus. Thema: Mehr-Generationen-Wohnen ohne gegenseitige Beeinträchtigung, heutige Standards und vor allem: Licht. Nach Plänen von Hermann Kaufmann wurde das Dachgeschoß ausgebaut sowie ein Treppenhaus, das Licht ins Innere lässt. Mit dabei: Handwerker des Werkraum Bregenzerwald mit Möbeln, hier teilweise als Prototypen. Der vorerst letzte Abschnitt: Fassade mit Fenstern und Schopfergänzung durch Architekt Walter Felder. „Das Haus ist eine Zeitreise“, sagt der Bauherr. „Das unveränderte Wälderhaus ist eine Illusion, doch die alte Bausubstanz bietet anderes als ein Neubau und es ist leistbar, weil man Raum und Zeit teilen kann.“ Etwas weiter, am Ende der Straße: der eigene Umbau des Architekten Walter Felder, dazu ein weiterer derzeit im Bau. Mit seiner Familie bewohnt er unter einem Dach eine raffinierte Verknüpfung von altem Wohnteil und neuem Bau anstelle des Wirtschaftsteils. Raffinesse zeichnet seine Arbeit aus: Für die von ihm für dieses Haus entwickelten Fenster erhielt er beim letzten „Handwerk+Form“ den ersten Preis.

Eine Handvoll Beispiele zum Thema „Alte Bausubstanz“. Alle Bauherren bestätigen, was Geschäftsführerin Daniela Kohler feststellt: „Ein guter Anfang: die Bestandsaufnahmen. Eine große Chance: Möglichkeiten aufzeigen, Hilfestellung leisten. Ein wichtiges Ergebnis: das Thema ist salonfähig geworden.“

Daten & Fakten

Projekt: Alte Bausubstanz

Entstehung:
UNESCO-Weltkulturerbe-Prozess der REGIO Bregenzerwald

Projektträger:
Regionalentwicklung Bregenzerwald

„Projektgötte”:
Bürgermeister Armin Berchtold, Schwarzenberg

Fachliche Begleitung:
Markus Berchtold (Ingenieurbüro heimaten)

Projektziel: Alte Bausubstanz im Bregenzerwald soll erhalten, genutzt und bewusst weiterentwickelt werden.

Mindergenutzte Gebäude Bregenzerwald

Bestandserhebung (2007): 386 leerstehende Gebäude, 488 mindergenutzte Gebäude

Bruttonutzfläche:
416.000 m²

Wohnraumkapazität:
25–30 Jahre ohne zusätzliche Flächenneuwidmungen

Weitere Informationen:
Förderungen, Beratung, Sanierungsleitfaden, etc. – altebausubstanz.at

(VN/ Leben & Wohnen – die Immobilienbeilage der Vorarlberger Nachrichten)

Für den Inhalt verantwortlich:
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