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"Säuberungswellen in der Türkei wie unter Stalin"

Presseecho nach dem Türkei-Putsch.
Presseecho nach dem Türkei-Putsch. ©AP
Geradezu niederschmetternd war das europäische Presseecho am Dienstag nach dem Türkei-Putsch und hinsichtlich der Perspektiven für die Türkei. Manche sehen die EU vor einem "größeren Alptraum".

“Pravo” (Tschechien): “Der Putschversuch sei ein Geschenk Gottes und ermögliche es, die Armee zu säubern. Angesichts dieser Worte des türkischen Präsidenten Erdogan fröstelt es einem. Übersetzt in die Sprache der Tat bedeutet dies: Die Stunde der Abrechnung ist gekommen. Nun kann der Präsident ohne Skrupel die letzten Reste der Opposition und mögliche Gegner niederschlagen, nicht nur in den Streitkräften, sondern überall. Einen solch weiten Schlag unmittelbar nach einem Putschversuch auszuführen, ist entweder eine Superleistung oder, und so scheint es mehr und mehr, eine lange im Voraus geplante Säuberungsaktion, vergleichbar mit den einstigen Säuberungswellen des sowjetischen Diktators Stalin. Die Türkei ist seit längerem keine klassische Demokratie mehr. Nun baut sich ein rücksichtsloser Autokrat in dem 80-Millionen-Einwohner-Land an der Südostgrenze Europas seinen Thron.”

“Dennik N” (Slowakei): “Kaum eine Armee hat mit erfolgreichen Regierungsumstürzen solche Erfahrungen wie die türkische. So ein verpatzter Putsch ist weit unter ihrem Niveau. Daher ist es kein Wunder, dass sofort Theorien auftauchten, der Umsturzversuch sei von Präsident (Recep Tayyip) Erdogan selbst inszeniert worden, um den verbliebenen Rest an Gegnern und unabhängigen Institutionen im Land zu liquidieren.

Die Wahrheit wird wohl in der Mitte liegen: Ein Teil der Armee dachte wirklich, dass sie einen Putsch unternimmt, aber Geheimdienste und präsidententreue Sicherheitskräfte wussten das im Voraus und waren vorbereitet. Sie ließen die Putschisten handeln, um dann umso besser ein autoritäres System aufbauen zu können.”

“Dagens Nyheter” (Schweden): “Erdogans Politik gegenüber der EU ist bisher eine Machtdemonstration gewesen. Während das Flüchtlingsabkommen geschlossen wird, bringt er weiter Journalisten ins Gefängnis, und viele der Richter, die nicht zu den gleichen Schlussfolgerungen wie der leicht verletzliche Präsident kommen, sind verhaftet oder ihrer Ämter enthoben. Selbst wenn der Versuch der Machtübernahme vom Wochenende genauso mittelmäßig wie schnell vorbei war, herrscht noch Spannung im Land. (…) Was bleibt ist die Erkenntnis, dass Demokratie und Rechtsstaat der Türkei in Gefahr sind. Die EU muss danach handeln.”

“De Standaard” (Belgien): “Die EU steht vor einem noch größeren Alptraum. Sie hat der Türkei Visumfreiheit und langfristig sogar einen EU-Beitritt in Aussicht gestellt. Für Brüssel ist es daher fast schon eine Erleichterung, dass (der türkische Präsident Recep Tayyip) Erdogan mit dem Gedanken an die Wiedereinführung der Todesstrafe spielt. Dann würde er sein Land nämlich selbst für weitere Verhandlungen mit der EU disqualifizieren.

Die vielen Aufrufe, bei der Reaktion auf den Staatsstreich dem Rechtsstaat keine Gewalt anzutun, klingen arg hohl nach dem, was man vorher schon alles zu tolerieren bereit war. Wir können nun bloß hoffen, dass Erdogan weiterhin Asylsuchende zurückhält. Sonst fällt uns die unappetitliche Aufgabe zu, sie zu ihm abzuschieben. Denn nur so können wir die Illusion aufrechterhalten, dass das Flüchtlingsproblem “unter Kontrolle ist”.

(dpa)

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