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"Politisierung existiert auch hier!"

©handout/Coskun
Die Türkei ist im Ausnahmezustand. W&W sprach mit Journalist Ercan Coskun, der einen Vortrag im Spielboden Dornbirn hält.

Seit dem 15. Juli hat sich das Leben in der Türkei dramatisch verändert. Nach dem blutigen Putschversuch gegen die Regierungspartei AKP sowie den Präsidenten Recep Tayyip Erdogan wurden über 70.000 Menschen verhaftet, gegen 32.000 wurden Haftbefehle erlassen. Davon weiß auch der türkische Journalist Ercan Coskun zu berichten: „Längst geht es Erdogan um die Aufrechterhaltung seiner Macht. Ob mit indirekter Unterstützung einer getäuschten Opposition oder mit einem Präsidialsystem, ist zweitrangig. Viel mehr hat die ‘Säuberungswelle‘ den Zweck, die vertraulichsten Leute im Staatsdienst zu beauftragen“, so der 35-Jährige. Besonders Journalisten müssen in der Türkei mit Verhaftungen rechnen. „Gewiss gibt es noch Journalisten, die ohne über die Folgen nachzudenken, die Wahrheit berichten. Die Freiheitsstrafe muss man dabei aber in Kauf nehmen. Nach den Angaben von Pen International sind insgesamt 130 Journalisten in Haft“, sagt Coskun.

Hintergründe des Putsches

Die genauen Hintergründe des Putschversuchs sind bis jetzt immer noch nicht im Detail bekannt. „Es gibt Lücken in der Ereigniskette und deswegen muss man mit den Analysen vorsichtig sein“, so Coskun. „Die Türkei befindet sich seit den Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 in einer politischen Krise. Damals hat die regierende AKP die absolute Mehrheit verloren und wurde zum ersten Mal in ihrer Geschichte zu einer Koalition gezwungen. Diese hätte für Erdogan bedeutet, das Machtmonopol verteilen zu müssen. Stattdessen hat er den Friedensprozess mit der PKK (Anmk. Kurdische Arbeiterpartei, die vielerorts als Terrororganisation eingestuft wird) beendet und alles auf die Nationalismus-Karte gesetzt. Bei den vorgezogenen Neuwahlen hat die AKP die Mehrheit zurückgewonnen. Die Eskalation der Gewalt hat die anderen Parteien entweder gelähmt oder ihren Existenzgrund vernichtet. Durch diesen harten Kurs wurde die Spannung in der Türkei nicht aufgehoben, sondern erhöht“, erklärt der studierte Philosoph.

Die Drahtzieher

Für die türkische Führung ist der Hintermann des Putschversuchs Erdogans ehemaliger Verbündeter, der Imam Fethullah Gülen, welcher im Exil in den USA lebt. Diese Meinung teilt auch Coskun: „Nach den Täter- und Zeugenaussagen spielten Gülen-Anhänger eine erhebliche Rolle. Auch Armeekenner bekräftigen diese These. Laut den türkischen Medien ist der Theologe Adil Öksüz der Kopf hinter dem Putsch. In der Nacht zum 16. Juli war er im Operationszentrum des Putsches und wurde am nächsten Tag festgenommen. Merkwürdigerweise wurde er aber gleich wieder freigelassen und ist jetzt flüchtig. Der Kommandostab, die Führungshierarchie und der Schlachtplan der Putschisten sind aber immer noch unbekannt. Leider stimmt es, dass die ,Säuberungswelle‘ nicht nur gegen Gülen-Anhänger, sondern gegen alle ,unangenehmen Personen‘ gerichtet ist – Kurden und Sozialisten mit eingeschlossen“, so der in Bonn lebende Journalist.

Konflikt in Europa?

In der Bevölkerung gibt es Zweifel, ob der Konflikt nicht nach Europa bzw. Österreich getragen wird. „Es existiert auch hier eine gewaltige Politisierung und Polarisierung. Erdogan-Anhänger, Kurden und Aleviten identifizieren sich noch mit der Politik in ihrem Herkunftsland, obwohl sie ihren Lebensmittelpunkt hier haben. Man sollte eine soziale und politische Bewegung finden, welche die Volksgruppen mit und ohne Migrationshintergrund um ein gemeinsames Ziel vereinen kann. Letztendlich sind die europäischen ,Gastgeber‘ ja auch nicht immer einig“, beschreibt der gebürtige Istanbuler die Situation in Europa.

Vortrag und Diskussion: “Putschversuch in der Türkei: Ursachen-Akteure-Auswirkungen”
WANN: 6. Oktober, 19.30 Uhr
WO: Spielboden Dornbirn
WER: Ercan Coskun
Moderation: Thomas Schmidinger

Die gesamte Ausgabe der WANN & WO lesen Sie hier!

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