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Neil Gaiman in Wien: Von Kindheit, Horror, Magie und Lieblingscharakteren

Im Gespräch mit Geschichtenerzähler Neil Gaiman in Wien
Im Gespräch mit Geschichtenerzähler Neil Gaiman in Wien ©VIENNA.at/Lukas Krummholz
Auf der Lesereise für seinen aktuellen Roman machte der britische Kult-Autor Neil Gaiman auch in Wien Station - und sprach im Interview mit VIENNA.at über gruselige Kindheitserinnerungen, Lieblingscharaktere aus dem eigenen Werk, die Magie von Buchhandlungen und die Verführungen der österreichischen Küche.
Neil Gaiman beim Interview
Gaiman & Palmer in Wien

Es ist ein nasskalter, ungemütlicher Nachmittag, wie er ohne Weiteres Schauplatz einer seiner Geschichten sein könnte, als Neil Gaiman mir am Mittwochnachmittag am Tisch eines leeren Hotel-Restaurants in der Herrengasse in der Wiener Innenstadt gegenübersitzt.

Neil Gaiman: Geschichtenerzähler par excellence

Der erste Eindruck von dem hochkarätigen Autor, der für seine Comics, Romane, Drehbücher und Co. so ziemlich jeden namhaften Fantasy-Preis erhalten hat, verstärkt sich unser ganzes Gespräch hindurch immer mehr: Gaiman könnte sympathischer nicht sein. Er trinkt, ganz Engländer, kannenweise Pfefferminztee, während er aus dem Nähkästchen plaudert.

Egal, worum es geht, man spürt: Der Mann in Schwarz mit dem strubbeligen Haar und leicht angegrauten Bart, der so ein gewähltes, schönes britisches Englisch spricht, ist ein Geschichtenerzähler durch und durch. Umso spannender, zu erfahren, dass der phantastisch anmutende Plot seines aktuellen Romans “The Ocean at the End of the Lane” (deutscher Titel: “Der Ozean am Ende der Straße”) nicht gänzlich seiner unerschöpflich scheinenden Phantasie entsprungen ist (wer das höchst empfehlenswerte Buch noch nicht gelesen hat, sei an dieser Stelle vor Spoilern gewarnt).

Am Anfang war ein Mini

Dass der Roman leicht autobiographisch sei, hat Gaiman schon mehrfach in Interviews anklingen lassen – weshalb ich ihm die Frage nach dem Realitätsgehalt hinter der Geschichte überhaupt stelle. Ausgelöst habe die Beschäftigung mit den Erinnerungen an seine Kindheit ausgerechnet ein Auto, ein Mini. Einen solchen Wagen hat Gaiman selbst sich, wie er erzählt, im Jahr 2003 zugelegt, und sich dabei an den Wagen seiner Familie erinnert, als Klein Neil sechs Jahre alt war.

Darauf angesprochen, warum die Gaimans dieses Auto damals weggegeben hätten, habe ihn sein Vater erstaunt gefragt, ob er ihm nie erzählt habe, was damit passiert sei – und schon ist Gaiman mittendrin, die Anekdote wiederzugeben, die Eingang in den Roman gefunden hat: den Selbstmord eines Opalminen-Arbeiters aus Südafrika, der bei Familie Gamain Quartier genommen hatte, und sich in deren Wagen das Leben nahm, nachdem er sein ganzes Geld und sämtliche Ersparnisse seiner Freunde verspielt hatte. Was den Autor Jahre später dazu motivierte, diese wahre Begebenheit für seinen Roman zu nutzen. Im Gespräch mit VIENNA.at führt Gaiman in diesem Zusammenhang aus, dass er das Schreiben liebe, und es sich für ihn nicht wie Arbeit anfühle. Als Workaholic empfinde er sich selbst trotz all seiner Produktivität nicht.

Eine Liebeserklärung an Amanda Palmer

Entstanden ist das Buch als eine Art Liebeserklärung für seine Frau Amanda Palmer, ihres Zeichens Rockmusikerin (vormals der Dresden Dolls, inzwischen mit eigener Band tätig). Wie Gaiman erzählt, habe er sie 2012 während ihres dreimonatigen Australien-Aufenthalts für Aufnahmen zu ihrem Album “Theatre is evil” so sehr vermisst, dass er ihr ein besonders romantisches Geschenk zukommen lassen wollte – eine eigens für sie geschriebene Geschichte, in der er ihr die Orte seiner Kindheit zeigen wollte, die heute in der Form nicht mehr existieren.

Was als Brief begann, wuchs sich nach und nach zum Roman aus, der Gaimans Lieblingsromanfigur aus all seinen Werken enthält, wenn er denn eine wählen müsste – was nach eigener Aussage in etwa so ist, als müsste man unter allen seinen Kindern das Liebste nennen: Lettie Hempstock. Die pfiffige Elfjährige, die gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter die zentrale, übersinnlich anmutende “Dreifaltigkeit” im “Ozean am Ende der Straße” bildet, trägt Züge von Palmer, wie sie wohl als kleines Mädchen gewesen sei, so Gaiman. Kleinigkeiten, die er an ihr liebe, habe er in den Charakter Letties einfließen lassen. (Als Lieblingscharakter aus den “Sandman”-Comics nennt Gaiman gegenüber VIENNA.at Merv Pumpkinhead – weil dieser immer in klaren Worten seine Meinung sage.)

Gruselig und spannend:
“The Ocean at the End of the Lane”

Als Lettie im Roman unmittelbar im Anschluss an den Selbstmord des eingemieteten Gastes auftritt, nimmt die Geschichte ihre Wendung ins Düstere, Mysteriöse und Übersinnliche, was dazu führt, dass der Roman nur bedingt für Kinder empfehlenswert ist. (Bei seiner Lesung in der Buchhandlung Morawa auf der Wiener Wollzeile erläutert Gaiman am Mittwochabend, dass er den Einstieg in die Geschichte mit Absicht etwas langatmiger gestaltet habe, um Kinder, die für die nachfolgenden Ereignisse noch zu klein seien, beim Lesen im Vorfeld abzuschrecken.)

Denn in dem Roman, der irgendwo zwischen den Genres Fantasy und Dark Fiction pendelt, geht es in weiterer Folge gehörig zur Sache. Besonders gruselig mutet die Figur des “Monsters” Ursula Monkton an, die etwa droht, dem namenlosen siebenjährigen Erzähler das Herz herauszureißen. Weitere Highlights des Grauens im “Ozean”-Roman: Ein mysteriöser Wurm, der erst ein Loch und dann sich selbst in den Fuß des kleinen Buben bohrt und ein Vater, der plötzlich gewaltsame Züge entwickelt und den eigenen Sohn in der Badewanne zu ertränken versucht. Beruhigend, in diesem Zusammenhang zu erfahren, dass die Elternfiguren im Roman mit Gaimans Eltern nichts gemein haben.

Neil Gaimans Lieblingsplätze in Wien

Wien sei eine seiner Lieblingsstädte auf der Welt, so Gaiman. Er liebe es, dass er hier seine Anonymität zurückbekomme und diese genießen könne (“it’s lovely and magic”) – was in den USA etwa ein Ding der Unmöglichkeit sei, wenn es auch vorkomme, dass er mit Regisseur Tim Burton verwechselt werde. Regelrecht ins Schwärmen gerät Gaiman, wenn es ums Einkaufen in Wien geht – sein Lieblingsort dafür sei der Naschmarkt. Begeistert zeigt er sich von uralten Geschäften, in denen man Waren erwerben könnte, die tatsächlich eine Geschichte haben, wie einen 90 Jahre alten Spazierstock aus Ebenholz und Knochen mit einem geschnitzten Kopf, den er einem Freund von einem seiner letzten Wien-Besuche mitgebracht habe. Auch kulinarisch bringt die Stadt seine Augen zum Leuchten – er habe hier nie etwas zu essen bekommen, das ihm nicht außerordentlich geschmeckt habe, und er müsse sich stark zurückhalten, hier nicht so viel Heiße Schokolade zu trinken, wie er Lust hätte, um nicht als “little fat man” in die USA zurückzukehren.

Von der Magie kleiner Buchhandlungen

Was Gaiman an seiner Wahlheimat stark kritisiert, ist der Mangel an guten Buchhandlungen, was den Autor zu einem seiner Herzensthemen bringt: der Notwendigkeit, als Konsument statt Online-Versandriesen wie Amazon eher kleine Buchhandlungen zu unterstützen. Er liebe Buchhandlungen abseits großer Ketten (“It is impossible to love an Barnes&Noble”), in denen die angebotenen Bücher jemand liebevoll ausgewählt habe, so Gaiman.

Die Buchhandlungen, die ihn glücklich machen, seien jene mit Seele, hinter denen richtige Menschen stünden, und in denen es zu entdecken gebe, was man nicht erwartet habe, zu finden – während man auf Amazon bestenfalls fände, wonach man gesucht habe. “Bookshops will give you the book that you are not looking for – and that is magic”, so Neil Gaiman abschließend.

(DHE)

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