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„Ich würde hier nie wegziehen!“

©40 Jahre Achsiedlung
Vorarlberg - WANN & WO war auf Tour in der Bregenzer Achsiedlung und hat mit Bewohnern gesprochen.
“Sich selbst ein Bild machen!”

„Hast du hier einen Neger gesehen?“, ruft ein Junge auf einem Fahrrad dem Paketboten im Innenhof nach. Der dreht sich um: „Einen was?“, erwidert er entrüstet. „Kein richtiger, aber ziemlich dunkel ist er schon. Er ist mein Freund, ich hab mit ihm ausgemacht“, erklärt der Kleine. Wir haben gerade die Wohnung der 76-jährigen Ruth verlassen, die uns von den Anfängen der Achsiedlung erzählt hat. Dunkelhäutiger Junge ist weit und breit keiner zu sehen. Schulterzuckend geht der Mann weiter, um das Paket abzuliefern, der Bub radelt weiter zum nächsten Haus.

Treffpunkt Innenhof

Im Innenhof vor dem „45er-Block“ sitzt eine Gruppe von Bewohnern der Achsiedlung zusammen. Man bespricht die aktuellen Neuigkeiten in der Siedlung und genießt das schöne Wetter im schattigen Hof. Auch Ruth gesellt sich zu der illustren Runde. „Wir haben es hier so fein“, ist die einhellige Meinung der Bewohner. Dass die Siedlung „am Rande der Stadt“ im Rest von Vorarl­berg so einen schlechten Ruf hat, können sie aber dennoch verstehen. „Die Außenwahrnehmung ist ganz anders, als es tatsächlich ist. Früher war es schon noch schlimmer. Darum ist die Achsiedlung als ,Problemgegend‘ abgestempelt“, erklärt Thomas (58). „Ich mag die Gegend hier. So schön und so günstig wie hier wohnt man sonst nirgends in Vorarlberg!“

„Man hält zusammen!“

Die Menschen in der Achsiedlung sind eine eingeschworene Gemeinschaft: „Ich würde hier nie wegziehen, aber schwierig wird es, wenn sich einige nicht integrieren möchten“, sagt Thomas. „Das hat nichts damit zu tun, ob sie Migrationshintergrund haben oder nicht. Vielmehr geht es darum, sich in das gesellschaftliche Leben der Siedlung einzubringen.“ In der 1976 gebauten Siedlung leben grundverschiede Menschen auf engem Raum zusammen, was mitunter auch das eine oder andere Problem mit sich bringt. „Grundsätzlich halten die Leute in der Achsiedlung aber zusammen. Besonders wenn man außerhalb der Wohngegend in der Stadt unterwegs ist, kennt man sich ja und hilft sich gegenseitig, wenn es Stress gibt“, fügt der 16-jährige Marco hinzu.

Vandalismus und Brandstiftung

In der Vergangenheit gab es in der Achsiedlung immer wieder Fälle von Ruhestörung in der Nacht, Schlägereien und auch Drogenprobleme. Auch mit Vandalismus hat der Obmann der Aktionsgemeinschaft Achsiedlung zu kämpfen: „Bei so vielen Leuten passieren solche Dinge halt auch. Vor 20 Jahren haben Auswärtige – man hat sie nicht erwischt, aber von hier war das sicher niemand – ein Feuer gelegt, durch das zig Autos zerstört wurden“, erzählt Helmut Schärmer, der uns durch die Siedlung begleitet. „Früher haben auch immer mal wieder Altpapiercontainer gebrannt, dass ganze Blocks wegen dem Rauch evakuiert werden mussten. Diese Vorfälle sind aber alle schon lange her.“

Viele Geschichten

So unterschiedlich die Menschen in der Achsiedlung sind, so verschieden sind die Geschichten, die sie erzählen. W&W hat sich mit Murat (24), Finale-Wirtin Michaela (44), dem 16-jährigen Marco, seiner Mutter Kerstin (42) und Ruth (74) über die größte Wohnsiedlung Vorarlbergs unterhalten, die heuer ihr 40-jähriges Bestehen feiert.

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20160825_MIK_WW0813 ©Murat, 24 MiK

„Ich lebe schon seit 20 Jahren hier in der Achsiedlung und hatte wirklich eine tolle Kindheit! Früher hat das Bild schon gestimmt, das die Leute aber leider heute noch von der Achsiedlung haben. Seit etwa 15 Jahren hat sich das aber deutlich gebessert. Man tut mehr für die Kinder und es ist wirklich eine coole Gemeinschaft geworden. Ich bin sehr froh, hier zu leben.“

40 Jahre Achsiedlung
40 Jahre Achsiedlung ©Michaela, 44 MiK

„Ich stamme aus Höchst, aber weil ich in Bregenz zur Schule gegangen bin und die meisten meiner Schulkollegen aus der Achsiedlung sind, habe ich hier auch viel Zeit verbracht. Vor etwa vier Jahren habe ich dann die Bar ,Finale‘ neben dem Spar übernommen, in der ich früher schon öfters ausgeholfen habe. Das Lokal hatte einen fürchterlichen Ruf, aber wir haben aufgeräumt und heute trifft man sich hier, um den neuesten Klatsch der Siedlung zu besprechen.“

40 Jahre Achsiedlung
40 Jahre Achsiedlung ©Marco, 16 MiK

„Wenn ich 18 bin, ziehe ich weg. Nicht weil es mir hier nicht gefällt, aber ich will eine eigene Wohnung. Hier in der Siedlung gibt es schon ,Gangs‘ von Jugendlichen, die manchmal auch Blödsinn machen. Früher war das aber noch viel krasser. Da gab es Schlägereien und auch Drogen waren ein Thema in der Siedlung. Klar kommt es auch heute noch vor, dass mal jemand Scheiße baut, aber eigentlich sind wir hier wie eine riesige Familie. In der Schule besteht die halbe Klasse aus Kids aus der Achsiedlung und die helfen auch gut zusammen, wenn es mal hart auf hart kommt. Beim Ausgehen in der Stadt ist es das Gleiche. Auch wenn man sich innerhalb der Siedlung nicht gut versteht, weiß man, wo man herkommt und lässt sich gegenseitig nicht hängen, wenn Nicht-Achsiedler Stress machen. Wir haben hier das beste Leben! Jugendtreff, Spielplätze, der See, die Ach – alles ist in der Nähe. Außerdem werden immer wieder tolle Feste organisiert, die sich kaum jemand aus der Siedlung entgehen lässt. Die Achsiedlung ist schon cool!“

40 Jahre Achsiedlung
40 Jahre Achsiedlung ©Kerstin, 42 MiK

„Die meisten hier kommen super miteinander aus. Ich lebe mit meinen Kindern seit etwa zwölf Jahren in der Achsiedlung und finde, dass das hier eine super Gegend ist. Wir haben eine tolle Wohnung, die man sich auch leisten kann, und es ist auch verhältnismäßig ruhig. Was das Miteinander angeht, können wir Erwachsenen von den Kindern hier viel lernen. Die unternehmen immer alles zusammen – vollkommen egal, was ihr Papa arbeitet, oder ob sie einen Migrationshintergrund haben. Ich habe das Gefühl, dass die Leute diese Unbedarftheit verlernen, wenn sie älter werden. Mir ist auch schon passiert, dass ich von einer anderen Mutter als Schlampe bezeichnet wurde, nur weil ich ihrem Kind gesagt hab, es soll den Abfall nicht auf den Boden, sondern in den Müllkübel werfen.“

40 Jahre Achsiedlung
40 Jahre Achsiedlung ©Ruth, 76 MiK

„Wir haben 1976 zu den ersten gehört, die eine Wohnung in der Siedlung bezogen haben. Damals war hinten raus alles noch Wiese. Davor habe ich in der Achgasse gewohnt, es war also kein weiter Umzug. Unser 45-er Block liegt ganz hinten am Rand der Siedlung. Das ist herrliche, denn hier ist es ruhig und wir sind direkt an der Ach, wo mein Sohn gerne fischen geht. Warum die Achsiedlung so verrufen ist, kann ich mir eigentlich nicht erklären. Es passieren doch überall schlimme Dinge und ich glaube, dass der Ruf künstlich aufgebauscht wurde. Wir kommen hier gut miteinander aus. Mit den Nachbarn trifft man sich im Innenhof, um ein bisschen zu schwätzen. Die Gruppe ist aber deutlich kleiner als früher, denn viele sind mittlerweile gestorben. Für mich ist aber ganz klar, dass ich hier nicht mehr ausziehe!“

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