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Gerührt, nicht geschüttelt

Cyril Müller
Cyril Müller ©"Eine erfreulich andere Baukultur – dank Maßstab, Dichte und Material." (Christian Lenz, Architekt)
Dornbirn - ... antwortet bekanntlich der Meister im Dienste Ihrer Majestät und Kenner aller Lebensfreuden auf die Frage, wie er seinen Mix wünsche.
Umbau Kirchgasse 1 und 3

Natürlich weiß er, dass die richtige Gemengelage Sorgfalt und Ruhe braucht, Druck und Hektik dagegen fehl am Platze sind. Eine Einsicht, die heute wenig verbreitet ist. So wenig, dass man darüber staunt, die Zusätze des neuen Oberdorfs von Dornbirn so wohltuend abgestimmt zu finden – ein Mix, der seit Kurzem um eine neue Zutat reicher ist: die Wohnanlage Kirchgasse 1 und 3.

„Man hat ja im Oberdorf durch Abbrüche und Schnellschüsse genug gesündigt; umso bemerkenswerter ist, wie das Viertel allmählich seinen eigenen Charakter wiedergewinnt durch Maßstab, Dichte und Material – was übrigens auch für Weg und Platz gilt. Was da einst entstanden ist, wird mit hoher Qualität fortgeführt“, erklärt Architekt Christian Lenz. Und Projektleiter Herbert Graf von der Bauherrschaft F.M. Hämmerle präzisiert: „Die Torwirkung der Bauten war uns von Anfang an ein Auftrag.“ Das zeichnete den Wettbewerbsentwurf von Kaufmann/ Lenz aus: Erhaltung und Sanierung der beiden Altbauten, wodurch erreicht wurde, dass heute geforderte Abstandsflächen umgangen werden konnten, so eine höhere Dichte möglich wurde und die städtische Atmosphäre des Gründerzeit-Viertels gesichert werden konnte.

Zwei historische Bauten fassen die Wohnanlage zusammen. Beim Wohnhaus aus dem Jahr 1869 stand die Sanierung außer Frage, doch beim benachbarten Rheintalhaus, einem rund 100 Jahre älteren Bauernhaus, lag der Fall komplizierter: einerseits das prägende Bild, andererseits eine Substanz, die sich als vielfach unbrauchbar erwies. Der Ausweg ist das Kernstück des Entwurfs.

Vom alten Bauernhaus wurde erhalten, was möglich war: der gemauerte Sockel und der gestrickte Holzbau des Wohnteils bis kurz unters Dach. Darüber wurde neu aufgebaut, jedoch in Art und Umfang wie der Vorgänger. Das Innere – räumliche Gliederung und Raumhöhen – wurde heutigen Standards entsprechend neu errichtet. Der alte Wirtschaftsteil erwies sich als unbrauchbar und wurde abgebrochen. „Als nur noch die drei Außenseiten des gestrickten Wohnhauses standen“, erinnert sich Architekt Christian Lenz, „hat jeder gewartet, dass die restliche Strickwand einfällt.“

Das änderte sich erst, als ein neuer Aufzugskern freistehend betoniert war, die neuen betonvergüteten Decken eingezogen waren, der neue Dachstuhl nach historischem Vorbild, jedoch konstruktiv und energetisch auf heutigem Stand, ausgeführt war und die Fassade, ergänzt durch Innenund Außendämmung sowie zeitgemäße Holzfenster, den neuen Schindelschirm erhalten hatte. Der Wirtschaftsteil wurde von Grund auf neu errichtet. Die ehemalige Tenne birgt heute die Erschließung des Wohnhauses mit einläufiger Treppe neben dem Aufzug und Balkonen an den Kopfseiten für angrenzende Wohnungen, deren durchscheinende Trennwände Tageslicht ins Treppenhaus lassen.

Was einst Stall und Bergeraum war, ist Wohnungs- Neubau – ein Holzständerbau mit tragendem Skelett, vorgefertigten Wandelementen und Massivholzdecken. Dieser Umstand erlaubte, den Abstand zum sanierten Altbau zu reduzieren und das Haus bis unters Dach auszubauen. Das Haus hat eine hinterlüftete Holzfassade – in Anlehnung an den alten Stadel ungehobelte Stulpschalung mit kräftigen, eng gesetzten Decklatten, die den Flächen starke Plastizität verleihen. Zum hangseitigen Platz gibt sich das Haus oberhalb des erdgeschoßigen Ladens geschlossen, zum Garten öffnen sich Fenstertüren auf Balkone – eine eigene Struktur aus Holz-Stützen, -balken und -brüstungen, die dem Haus eine eigene, feine Gliederung hinzufügt.

Gliederung, Maß und Material – das sind die Elemente, die Altbau und „Neubau“ zu einer Einheit machen. Mit einer sorgfältigen Sanierung war beim Altbau das Wesentliche getan, doch auch da wurde der Wohnwert gehoben, da durch neue Balkone ergänzt – ebenfalls in rechtem Maß und fein gegliedert. Was unsichtbar ist, jedoch beide Bauten verbindet: eine Tiefgarage unter dem Gemeinschaftsgarten mit Kinderspielplatz. Verdichteter, hochwertiger und doch erschwinglicher Wohnraum für 22 Wohnungen, in der Regel zwischen 45 und 85 m2, mit einer großen Wohnung unterm Dach. Auch nur möglich dank neuer Ideen bei der Verkehrspolitik der Stadt. „Weil wir mehr Wohnungen erreicht haben als Stellplätze, haben wir sieben Wohnungen als autofrei definiert; dem stimmt der Mieter zu und erhält dafür eine Jahreskarte des Vorarlberger Verkehrsverbundes gratis“, führt Herbert Graf aus, „ein bislang einmaliges Konzept im Land.“

Innovation im Umgang mit dem Wohnen und Differenzierungen beim Objekt und im Ensemble – Baukultur, ihrer Verantwortung für alle Teile bewusst und wohl abgestimmt, und eben nicht bloß nach Rendite hingeschüttelt. „Ein strukturierter Baukörper ist bei heutigen Bauträgern kaum mehr durchzusetzen – bei diesem Bauherrn dagegen herrscht – das sieht man im ganzen Viertel hier – eine erfreulich andere Baukultur“, bringt es Christian Lenz auf den Punkt.

Daten & Fakten

Objekt: Umbau Kirchgasse 1 und 3, Dornbirn-Oberdorf
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Eigentümer/Bauherr: F.M. Hämmerle Holding, Dornbirn
Architektur: Christian Lenz, Schwarzach

Ingenieure/Fachplaner: Statik: gbd Dornbirn; Heizung-, Lüftung-, Sanitär: GMI Dornbirn; Elektro: Hiebeler+Mathis, Hörbranz; Bauphysik/Akustik: Bernhard Weithas, Lauterach; Bauleitung: Architekten Hermann Kaufmann, Schwarzach

Wettbewerb: 2011
Planung: 2012–2014
Ausführung: 2013–2014
Grundstücksgröße: 1894 m²
Nettogeschoßfläche: 2279 m², davon 562 m² Tiefgarage
Wohnungen: 22 Wohnungen (45 m²–124 m²)

Bauweise: Bestand gedämmt (teilweise mit Calcium- Silikatplatten innen, teilweise Vorsatzschale innen; Neubau: Holzbau; Fassade bei der Kirchgasse 1: Putz im „alten Teil“ des Erdgeschoßes, Schindeln in den Obergeschoßen. Holzschirm im „neuen Teil“. Bei der Kirchgasse 3: bestehende Putzfassade; Fenster: Beim Bestandsumbau zweifach-Isolierverglasung, beim Neubau dreifach- Isolierverglasung, überall Holzfenster

Besonderheiten: Großzügige Fahrradabstellplätze (85 m²); 7 „autofreie“ Wohnungen

Ausführung: Baumeister: Gobber Bau, Bregenz; Zimmerer: Fussenegger Holzbau, Dornbirn; Heizung/Sanitär/Lüftung: Engel, Dornbirn; Elektriker: Willi, Andelsbuch; Küchen: Möbel Frick, Nenzing; Trockenbau: Formart, Lauterach; Spengler Bejos, Dornbirn; Dach: M+H, Dornbirn; Schindeler: Albert Hager, Mellau; Fensterbauer: Michael Hartmann, Nenzing; Naturstein-Restaurierung: Burkhard Fessler, Hard; Böden: Michael Bischof, Hard; Innentüren: Wolfgang Kurz, Bludenz; Verputzarbeiten: Gebrüder Keckeis, Lustenau; Holztreppen: Gerhard Berchtold, Schwarzenberg; Maler: Christof Lamprecht, Dornbirn; Fliesenleger: Fliesenpool, Götzis; Schlosser: Markus Kalb, Dornbirn

Energiekennwert: Kirchgasse 1: 35 kWh/m² pro Jahr, Kirchgasse 3: 43 kWh/m² pro Jahr

Quelle: VN/ Leben & Wohnen

Für den Inhalt verantwortlich:
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Das vai ist die Plattform für Architektur, Raum und Gestaltung in Vorarlberg. Neben Ausstellungen und Veranstaltungen bietet das vai monatlich öffentliche Führungen zu privaten, kommunalen und gewerblichen Bauten. Mehr unter architektur vorORT auf v-a-i.at

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