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Formen des Geistes

Aus dem Geist der Lebensreform um 1900 entstanden, in erweiterter Form der geistigen Erneuerung verpflichtet: das Gut Hochreute über dem Alpsee bei Immenstadt im Allgäu.
Aus dem Geist der Lebensreform um 1900 entstanden, in erweiterter Form der geistigen Erneuerung verpflichtet: das Gut Hochreute über dem Alpsee bei Immenstadt im Allgäu. ©Darko Todorovic
Immenstadt. Die Quelle für das Glück ist der Geist selbst – so die Devise, die dem Tun im Europazentrum Hochreute bei Immenstadt im Allgäu vorangestellt ist.
Gut Hochreute in Immenstadt

Soweit so gut – oder soll man sagen: so schön? „Das Geistige in der Kunst“ ist der Titel eines vor rund hundert Jahren erschienenen, wegweisenden Buches von Wassily Kandinsky; in Geist und Zeit verwandt ist das dortige Stammhaus in zurückhaltendem Jugendstil, der aus dem Geist der Natur Schönheit zu schaffen suchte. Hundert Jahre später wird es um einen Neubau ergänzt, verpflichtet dem Geist eines Rationalismus, der sich jeden Kunstwollens enthält. Dazwischen das geistige Zentrum im renovierten Ökonomiebau, Erinnerung an den Ursprung aus einer Bauernstelle, dann Überhöhung als reformerische Landarbeit – der Genius loci, Geist des Ortes klingt an: entfaltet in lange geübtem Umgang von Menschen mit einem herausragend schönen Stück Natur.

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1_1 ©Foto: Darko Todorovic

So viel Geist – und somit beste Voraussetzung für das heutige „Europazentrum“, das sich spirituelle Erneuerung aus dem Geist des Buddhismus widmet, als Meditationszentrum und europäischer Zentrale dieses geistigen Weges.

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1_2 ©Foto: Darko Todorovic

Am Südhang oberhalb des Alpsees liegt die Anlage auf einer Sonnenterrasse. Solche Flächen im Wechsel mit Böschungen charakterisieren diesen durch Viehwirtschaft geprägten, weitgehend offenen und geschützten Landschaftsraum. Haupthaus, Nebengebäude und Pavillon bilden mit Vorplatz ein solches Plateau; um einige Meter darüber die nächste Ebene mit mächtigem Bau für Stallungen und Bergeraum samt Vorplatz, gefasst durch eine Reihe Kastanien parallel zu den Höhenlinien. Der Neubau folgt dieser landschaftlichen Logik. Um einen neuen, zum Tal offenen, zurückgesetzten Hof liegen Seminar-, Wohn- und Gästeräume; der mächtige Giebel des Wirtschaftstrakts vermittelt zum alten Hof. Die Einbettung in den Naturraum ist so bestmöglich sichergestellt.

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1_3 ©Unverkennbar bildet die Ordnung der Anlage und der Bezug zur Landschaft mit den östlichen Ausläufern der Nagelfluhkette den Kern des Entwurfs. Foto: Darko Todorovic

2009 konnten die Architekten Dietrich Untertrifaller mit Roland Gnaiger in einem zweistufigen Wettbewerbsverfahren mit dieser Idee überzeugen: Zentrum der Gemeinde im Stadel, Wohn- und kleinere Seminarräume im Neubau um den Hof.

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2_1 ©In Verlängerung der großen Terrasse, bei gutem Wetter Treffpunkt der Anlage, schließt der Hof mit dem Gästehaus das Zentrum zum Wald hin ab. Foto: Darko Todorovic

Klare Linien, Selbstverständlichkeit im Grundriss, Entschiedenheit der Materialwahl, Perfektion der Ausführung sind Merkmale seiner Architektur. Zweigeschoßig, mäßig in der Höhe, großzügig zum Hof belichtet, begrüntes Flachdach. Einbündig zum Hang mit Sichtbeton zum Berg – in Szene gesetzt durch natürliches Streiflicht von oben – Eiche am Boden und weiß pigmentierte Weißtanne zu den Zimmern, die mit raumhoher Verglasung auf den Hof gehen. Die Räume sachlich weiß, geistige Konzentration anstelle ausgelebter Individualität. Der Seitentrakt zum Wald ist analog gestaltet, jedoch zweibündig für Wohngruppen mit Seminarräumen auf Hofebene. Gegenüber der große Giebel und ein kleiner Flügel mit Schlafsaal und Werkstatt.

©Das gesamte Obergeschoß des Wirtschaftstrakts mit eindrucksvollem Dachstuhl ist Meditationsraum, indirekt und durch Fensterschlitze erhellt. Foto: Darko Todorovic

In den Ecken der Anlage befinden sich zwei Treppenanlagen mit einläufigen Treppen, die den Hof mit der nächsten Landschaftsterrasse oberhalb verbinden und den Blick in den Himmel öffnen. Unten setzen sie sich in einem Wegegeviert fort, das an einen Kreuzgang anspielt. Dessen vierte Seite bildet eine mit Blauregen bewachsene Pergola, die den Hof schließt, die Aussicht in die Berge rahmt und die Terrasse vor dem Hauptgebäude fortsetzt.

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2_3 ©Zwischen der Betonwand zum Hang und dem Flur der Gasträume fällt über zwei Geschoße Tageslicht ins Gebäudeinnere. Foto: Darko Todorovic

Alleine das mächtige Satteldach mit seinen Ochsenaugen und vier zierlichen Türmchen macht diesen Bau zur „Hauptsache“. Die Türmchen weisen auf seine Besonderheit hin. Als die Anlage 1913 vollendet wurde, war sie technologisch auf der Höhe der Zeit: Die Türme schließen die Belüftung des gemauerten Viehstalls ab. Und ebenso avanciert war die Holzkons-truktion des gewaltigen, stützenfreien Bergeraums im Obergeschoß bis unter den Dachfirst – immerhin 550 m2 Grundfläche. Sehr zur Freude des Denkmalamts, das hiermit nicht nur ein Beispiel frühen Holz-Ingenieurbaus vorfand, sondern auch noch solcherart, dass dieser sich leicht „auseinanderschrauben“ ließ, um zur Sanierung in die Trockenkammer zu wandern. Komplett! Um dann durch wenige neue Hölzer ergänzt wieder aufgerichtet zu werden.

»“Unser Ziel war, am baulichen Bestand mit heutigen Mitteln weiterzubauen. Nicht das Historische zu überformen.” (Helmut Dietrich, Architekt)«

dem Ende der Landwirtschaft eine angemessene Nachnutzung zu finden, gleicht einem Kunststück. Mit dem neuen zentralen Meditationsraum, Gompa genannt, ist es geglückt – dem Erhabenen des neuen Inhalts entspricht die Form dieses beeindruckenden Raumes mit sichtbarer historischer Konstruktion, gedämmtem Dach, gedämmter Wand und gedämpftem Licht dank der Ochsenaugen im Dach und wenigen senkrechten Fensterschlitzen, die sich in die überlukte Schalung der Fassade inte-grieren. Eine neue Betondecke über dem Erdgeschoß leistet Brandschutz und gewährleistet die gewünschte Ruhe. Abgerundet wird die Atmosphäre durch einen Boden aus massiver Eiche, stammweise verlegt. Ermöglicht wird so ein Raum durch Mitspielen der Behörden. So sind die Fluchtwege durch einen dem Raum bergseitig vorgelegten großzügigen und weitgehend verglasten Raum mit mehreren Treppen gesichert.

©Das ausgeklügelte Konzept eines Anbaus an den großen Stadel mit Fluchttreppen und großzügiger Verglasung erlaubt die Freilegung des Dachstuhls. Foto: Darko Todorovic

Im Erdgeschoß befindet sich der Speisesaal, der sich zur Terrasse unter den Kastanien öffnen lässt. Dazu kommen die Küche, Nebenräume und ein Foyer. Die historische Hülle der teilweise sichtbar gemachten Ziegelkonstruktion fasst all das zusammen. Ein Anlieferungs- und Werkstatthof mit neuen Funktionsbauten auf der Rückseite garantiert reibungslosen Betrieb. Was allerhand heißen mag! Etwa, wenn sich einmal im Jahr die Gemeinde aus nah und fern hier einfindet und an die 5000 Personen zufrieden gestellt werden müssen – und das dann nicht nur im Geiste.


Daten und Fakten

Objekt: Gut Hochreute Immenstadt i. Allgäu/D
Eigentümer/ Bauherr: Buddhismusstiftung Diamantweg
Architektur: Dietrich | Untertrifaller Architekten mit Roland Gnaiger, Bregenz
Statik: gbd, Dornbirn
Ingenieure/ Fachplaner: Haustechnik: Mayer, Ottobeuren(D); Bauphysik: Bernhard Weithas, Hard; Brandschutz: IBS, Linz; Landschaft: Barbara Bacher, Linz; Bebauungsplan: Sieber, Lindau
Planung: 9/2009–6/2015
Ausführung: 6/2013–6/2015
Bebaute Fläche: 3415 m²
Nutzfläche: 4729 m²
Bauweise: Massivbau aus Beton und Ziegeln; Holzbau bei Sanierung/Umbau; neuer Wohnbau im Passivhausstandard; Bestand mit mechanischer Be- und Entlüftung; Heizung mit Hackschnitzel- oder Geothermie; Eigenholzverwendung; Photovoltaikanlage
Besonderheiten: Eröffnung bereits am 27. 7. 2015 in Anwesenheit des Königs von Bhutan
Baukosten: ca. 8,6 Mill. Euro


Quelle: Leben&Wohnen – die Immobilienbeilage der Vorarlberger Nachrichten

Für den Inhalt verantwortlich:
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