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Feine Ohren

Wer sich als Fremder unvermutet in einer ihm fremden Gesellschaft wiederfindet – „der Fremde ist nur in der Fremde fremd“ (Valentin) – wird gut beraten sein, das Maul zu halten, höflicher ausgedrückt, zunächst zuzuhören, solange zumindest, bis sein Schweigen auffällt und er etwas gefragt wird. Antwortet er, ist es um seine Anonymität geschehen. Man hört‘s heraus. Der Fremde verrät sich akustisch.

Aus diesem Grund zieht mancher Fremde zum nächsten Ort, noch bevor die haimische Angel ausgeworfen wird und bleibt unerkannt. Fremd bin eingezogen, fremd zieh ich wieder aus. Als Stranger in the night begegnet er uns sometimes. In Gesellschaft kann er seine Anonymität nur bewahren, wenn er sich taubstumm stellt wie „Häuptling“ Chief in Milos Formans Irrenhaus im Kuckucksnest. Sprechen schafft Probleme, endet nie.

Als erstes fällt der bunten Runde, die im Kurvencafe so einen obigen Unbekannten verhandelt, auf, dass die Neuerscheinung, der Fremde war erst zweimal da, keinesfalls ein Hiesiger ist, jedenfalls sei es kein Fischbächler, was immer das auch ist, auch kein Oberdorfer, was immer das auch ist, auch kein Vorarlberger, was immer das auch ist, sicher auch kein Deutscher oder Schweizer, denn man höre bei ihm einen starken fremdländischen Akzent. „An Tschusch?“ Nein, Tschusch sei der keiner, das würde er sofort erkennen, meint der Narbige aus Olmütz.

Anmerkung Wiki: Tschusch ist im österreichischen Deutsch eine abwertende Bezeichnung für einen Angehörigen eines slawischen, südosteuropäischen oder orientalischen Volkes.

Es handle sich „mit größtanzunehmender Wahrscheinlichkeit“ (Spezialausdruck der Historiker, wenn sie nichts wissen) auch um keinen Tschinggalar, weiß Rotbacke. Schmallippe meint, Türk sei er jedenfalls auch keiner. „Dänn kann as bloß an Luschnouar si!“, scherzt Knollennase und lacht dreimal selbst dazu. Knollennase wird im kommenden Monat 75 und hat zur Feier seines Runden ins Kurvencafe geladen. Die alte Vorstadtrunde bringt manchmal über 400 Jahre zusammen. “Der Nöü ischt jedenfalls an Frönda”, murmelt Bobo, “aber nicht alles, was neu ist, muss immer fremd bleiben”. Bobo ist kein Hiesiger, aber ein friedliebender Hohenemser. Bei ihm ist nur der Alpakapullover neu, aus dem Weltladen. „Wenn jemand etwas Neues an sich hat, kann er einem plötzlich fremd vorkommen“, sinnierte Schmallippe. „Alles neu macht der Mai“ lacht Knollennase. „Was ist eigentlich fremd und was ischt heimisch?“, wirft jetzt der Narbige in die Runde, „und üborhaupt“, legt er nach, “wänn seit ma hiesig? Wänn ischt ma hiesig und wänn nid?“. Stille tritt ein, die Runde denkt. Lang und langsam. Feine Ohren hätten die Zahnräder rattern gehört. Feine Ohren? Das war einmal. Die Zahnräder rattern weiter.

Ulrich Gabriel
Ulrich Gabriel ©Ulrich Gabriel
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