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USA: Ein Jahr nach "Katrina"

Seit ein paar Wochen gibt es wieder Post in Teilen der Lower Ninth Ward. Briefträger Wayne Treaudo ist endlich zurück, gerade rechtzeitig zum ersten Jahrestag des Hurrikans "Katrina".

Tag der Katastrophe war der 29. August 2005. Und die wenigen Einwohner, die er vorfindet, begrüßen ihn wie einen lange vermissten Freund. Man ist bescheiden geworden in New Orleans, jeder kleinste Fortschritt zählt, vermittelt einen Hauch von Normalität in dieser gebeutelten Stadt.

Noch vor einem Jahr stand ihr Name für Musik-Größen wie Louis Armstrong, Mahalia Jackson, Fats Domino oder die Marsalis-Brüder, für den Jubel und Trubel von Mardi Gras, für Gumbo und Jambolaya, Genüsse für Seele und Gaumen. Wer heute an New Orleans denkt, denkt an den Hurrikan „Katrina“. Ein wahrhaft fürchterlicher Sturm hat alles geändert, eine neue Zeiteinteilung geschaffen: vor „Katrina“ und nach „Katrina“.

Briefträger Treaudo ist sich dessen fast in jeder Minute seiner Tour bewusst: 20.000 Menschen lebten vor dem Hurrikan im Stadtteil Lower Ninth Ward, in dem ein Großteil der Häuser bis zu den Dächern unter Wasser stand. Rund 1.000 sind bisher zurückgekehrt, viele von ihnen leben in Wohnwagen. Treaudo stapft tagtäglich durch hüfthohes Unkraut, vorbei an Trümmerhalden und leer stehenden Häusern, in denen Möbel vor sich hinschimmeln und Ratten hausen, und in manche Teile dieses am härtesten getroffenen Viertels geht er erst gar nicht: Dort gibt es weder Strom noch fließendes Wasser. Alles ist tot und verlassen.

Schon Jahre vor „Katrina“ hatten Experten davor gewarnt, dass die Dämme der zum größten Teil unterhalb des Meeresspiegels liegenden Stadt einem schweren Hurrikan der Kategorie 3 und darüber nicht standhalten würden. Trotzdem war New Orleans erschreckend wenig vorbereitet, als „Katrina“ vorübergehend gar als Sturm der stärksten Kategorie 5 heranzog und schließlich am 29. August mit Windgeschwindigkeiten von gut 200 Stundenkilometern auf das Festland prallte. Wie heute – nach vielen Untersuchungen und noch mehr gegenseitigen Schuldzuweisungen – feststeht, haben hier die US-Stellen auf allen Ebenen und auf ganzer Linie versagt.

Bürgermeister Ray Nagin ließ die Stadt zu spät evakuieren, Menschen in den ärmeren Gebieten wie der Lower Ninth Ward oder auch im Bezirk St. Bernard vor den Toren der Stadt, die kein Auto hatten, blieben zurück, riefen auf ihren Hausdächern um Hilfe, viele ertranken. Das Stadion der Stadt wurde zur letzten möglichen Zufluchtstätte für 30.000 Menschen – und zu einem Symbol der Schande. Es dauerte Tage, bis Nahrungsmittel angeliefert wurden, die unter unerträglichen sanitären Bedingungen lebenden Menschen ein anderes Obdach fanden. Washington, allen voran die US-Behörde für Katastrophenmanagement (Fema), schien hilflos, gelähmt oder chaotisch. Erst hatte man den Hurrikan unterschätzt, dann dauerte die Koordination der Hilfsmaßnahmen Tage.

In der Zwischenzeit wurde die Welt via Fernsehen Zeuge von Szenen, die aus der Dritten Welt stammen könnten: Bilder von hungrigen, zornigen oder in Hoffnungslosigkeit erstarrten Menschen flimmerten über die Bildschirme. „Die Welt hat New Orleans in ihren Wohnzimmern, und die Nation hat New Orleans auf dem Gewissen“, formulierte es eine US-Zeitung.

Es ist eine Bilanz des Schreckens und des Versagens: Mehr als 1.800 Menschen in den Bundesstaaten Louisiana und Mississippi starben durch „Katrina“, die meisten davon in New Orleans, das am 30. August zu 80 Prozent überflutet wwurde. Insgesamt etwa 350.000 Häuser wurden zerstört oder beschädigt, 1,3 Millionen Menschen verloren ihr Zuhause. Nach Schätzungen der Münchner Rück richtete der Hurrikan einen Gesamtschaden von 125 Milliarden Dollar (97,3 Milliarden Euro) an.

Nur etwa die Hälfte der vor „Katrina“ in New Orleans lebenden 450.000 Einwohner ist bisher zurückgekehrt, die meisten von ihnen sind wohlhabend und weiß, während vor dem Sturm zwei Drittel der Bürger in der Stadt Schwarze waren. Nach „Katrina“ bestimmt noch stärker als vorher das Geld, wer sich in dieser Stadt das Leben in einem flutsicheren Viertel leisten kann oder nicht. Nur knapp 60 der 125 öffentlichen Schulen werden zu Beginn des neuen Schuljahres im September wieder in Betrieb sein, nur die Hälfte der Schulbusse fahren, und lediglich drei von elf Krankenhäusern nehmen wieder Patienten auf.

“Katrina” enthüllte das hässliche Amerika

Hurrikan „Katrina“ war nicht nur eine Tragödie für Hunderttausende von Amerikanern an der US-Golfküste – sie wurde auch eine der größten Blamagen in der Amtszeit von US-Präsident George W. Bush. Die Naturkatastrophe enthüllte die hässliche Seite Amerikas: Armut, Rassismus und Gewalt wurden weltweit sichtbar ins Scheinwerferlicht getaucht. Das Desaster am Mississippi- Delta entlarvte in diesem Fall die Unfähigkeit des nationalen US-Katastrophenschutzes, die Zögerlichkeit des Präsidenten und das miserable Krisenmanagement in Washington.

„Katrina“ wurde auch für die Medien, amerikanische wie europäische, kein Ruhmesblatt – zu sensationsheischend und aufgebauscht waren viele Horror-Geschichten über angebliche Massenvergewaltigungen und Mordorgien in den Flüchtlingslagern, über ausgeflippte Heckenschützen und massenhafte Plünderungen. Zwar kam es auch in den Tagen des Desasters zu Gewalttaten. Das allerdings ist in New Orleans, einer Hochburg der Kriminalität in den USA, stets so gewesen.

Im Gedächtnis der Amerikaner ist aber wohl vor allem ihr Präsident geblieben. Während die schrecklichen Bilder vom zigtausendfachem Elend, von hilflosen Alten, Kranken und Kindern im Wasser oder auf Hausdächern im überfluteten New Orleans um die Welt gingen, gab es auch das Foto von Bush, wie er aus dem Fenster seiner „Air Force One“ auf das Katastrophengebiet hinab schaut. Unvergessen ist sein Satz: „Ich denke, kein Mensch konnte das Brechen der Deiche voraussehen.“ Dabei stand in jedem besseren New-Orleans-Reiseführer etwas über die Furcht der Jazz-Metropole mit ihren zu schwachen Deichen vor einem Jahrhundert-Sturm.

Nach „Katrina“ bekamen die US-Bürger in Bush einen „König ohne Kleider“ zu sehen, sein Image als entschlossener Macher hatte arge Kratzer bekommen. Die Amerikaner waren geschockt, die Popularität des Präsidenten ging, auch wegen damaliger Skandale bei den Republikanern, in den Keller. Bush erlebte in der Folge die dunkelsten Monate seiner Präsidentschaft. „Katrina war ein nationales Versagen, … ein Sammelsurium aus Fehlern, Versäumnissen und Absurditäten“, hieß es schonungslos in einem Kongress- Untersuchungsbericht. „Eine frühere Einmischung des Präsidenten hätte die Hilfe beschleunigt“, lautete die relativ zaghafte Kritik der Kommission, die ausschließlich republikanisch besetzt war.

Als Sündenbock hatte schon recht früh der schließlich gefeuerte Direktor der Behörde für Katastrophenmanagement (FEMA), Michael Brown, gedient – der bis heute behauptet, die Regierung habe auf seine Mahnungen nicht angemessen reagiert.

Die Bilder aus dem überwiegend von Schwarzen bewohnten New Orleans zeigten der Welt ein Amerika, wie es in den Hollywood-Filmen selten vorkommt. Denn in den reichen USA leben über 37 Millionen Menschen unter der offiziellen Armutsschwelle von 22.509 US-Dollar (17.537 Euro) Jahreseinkommfen für eine vierköpfige Familie. Und in keiner Bevölkerungsgruppe ist der Anteil der Armen so groß wie unter den Schwarzen: Fast jeder vierte von ihnen zählt dazu.

Und als dann in der Extremsituation von New Orleans einige Läden geplündert wurden, zeigte sich eine andere Fratze der US- Gesellschaft, der Rassismus. Denn für weiße Flüchtlinge, die mit Wasserflaschen und Plastiksäcken aus aufgebrochenen Supermärkten kamen, gab es in manchen Medien eher verständnisvolle Worte über die Notlage der Menschen. Waren es dagegen schwarze Amerikaner, war schnell das Wort „Plünderer“ zur Hand. Am übelsten war die – wenn auch untypische – Entgleisung eines Fernsehreportes, der meinte, die Leute wühlten in Mistkübeln nach Essbarem „wie die Tiere“.

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