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„Die Dicken sind die Leckeren“

Keine Stecknadeln im Heuhaufen: Im Oktober sind die Kastanienwiesen mit kleinen Igeln übersät
Keine Stecknadeln im Heuhaufen: Im Oktober sind die Kastanienwiesen mit kleinen Igeln übersät ©VN - U.Traub
Die Kastanienernte im Tessin bietet alljährlich Naturerlebnisse und kulinarische Highlights.

Dieser Wald ist ein Zwischenreich. Unter den alten, zum Teil weit ausladenden Bäumen liegt ein grüner Wiesenteppich, über den man fast bedächtig schreitet. Hier fühlt man sich eher drinnen als draußen, eher geborgen als fremd. Häufig bahnen sich Sonnenstrahlen ihren Weg durch die dichten Wipfel und setzen die vielen Grün- und Brauntöne schillernd in Szene. Der ganze Hang ist ein stetiger Wechsel von Schatten und Licht – fast irreal.

Geräusche im Wald

Das einzige Geräusch, das wir im Wald von Induno hören, in dem man sich wie in einen mythischen Hain versetzt fühlt, ist der Wind, der gelegentlich in die Äste fährt, um ein Fenster zur Außenwelt zu öffnen. Doch dann vernehmen wir einen genauso leisen wie dumpfen Aufprall, der ohne ein Echo so schnell verklungen ist, wie wir ihn vernommen haben – und kurz darauf noch einen, schon wieder einen und dann gleich mehrere hintereinander.

Der Malcantone im Tessin, oberhalb von Lugano, ist Kastanienland. Im Oktober, wenn die Früchte reif sind, kann man das auch hören. Seit einigen Jahren bleiben die kleinen Igel nicht mehr liegen, sondern werden wieder geerntet. Carlo Scheggia, Revierförster in dieser Hügellandschaft, erzählt, dass die Kastanie, das sogenannte Brot der Armen, einst ein Grundnahrungsmittel im Malcantone gewesen sei. „In der Mitte des 20. Jahrhunderts hatte sie aber an Bedeutung verloren und die Wälder verwilderten schnell.“ Einer privaten Initiative ist es zu verdanken, dass es vor rund 20 Jahren zu einer allmählichen Rettung gekommen ist.

Tausend Jahre alte Bäume

„Wir konnten große Bestände der bis zu tausend Jahre alten Bäume rekultivieren“, erinnert sich der engagierte Förster. Mittlerweile würden sich die Früchte und die Möglichkeiten ihrer Verarbeitung einer neuen Wertschätzung erfreuen. „Die Kastanie ist schließlich ein Kulturgut in dieser Gegend“, freut sich Scheggia über diese Entwicklung. Nun kann sich die stille Region mit ihren kleinen Dörfern, in denen die Häuser eng beieinander stehen, wieder als Land der Kastanie präsentieren.

Der Hain von Induno ist die schönste Etappe auf dem Kastanienwanderweg, der sich auch der privaten Initiative verdankt. Den Oberkörper vorgebeugt und den Blick auf den Boden gerichtet, so bewegen wir uns durch den Wald. Profis erkennt man daran, dass sie Körbe oder Säcke mit sich tragen und mit Stöcken das Laub auf den Wiesen durchsuchen. Carlo erklärt, dass nicht alle, die auf dem Boden liegen, erntefähig sind. „Wenn die Schale feucht und dunkel ist, heißt das, die Frucht ist alt.“ Nur frisch gefallene Kastanien solle man ernten. Aber daran herrscht im Malcantone kein Mangel. „Wichtig ist auch, dass Sie nur die dickste der meist drei Früchte aus der Schale lösen“, rät der Experte. „Das ist immer die leckerste.“

Das Symbol der Kastanie

Vier bis fünf Stunden dauert die Rundwanderung über den Kastanienweg, immer dem Symbol der Kastanie folgend. Infotafeln und ein Faltblatt bieten Wissenswertes rund um die Frucht – etwa über eine Grà. In diesem historischen Dörrhaus wurden die Kastanien getrocknet und gelagert. Heute findet rund um die wieder funktionsfähige Grà im Oktober das Erntefest statt.

Ein Tipp von Carlo Scheggia ist, den Blick nicht zu sehr auf den Boden zu richten, weil man sonst unerwartet vor einer Kuh stehen oder die grandiosen Landschaftspanoramen verpassen könnte. Die Wanderung verläuft zunächst oberhalb der Malcantone-Dörfer, die an den bewaldeten Hängen kleben und deren Kirchtürme sich zuzuwinken scheinen, und führt später ins Tal. Von Ferne grüßt die kahle Kuppe des Monte Lema, die oberhalb der bis auf 1000 Meter reichenden Kastanienwälder herauslugt.

Zum Abschluss wartet eine Stärkung in einem typischen Tessiner Grotto in Arosio. Direkt am Fuße des Hains von Induno gibt es auch im Grotto Sgambata Kastanien-Leckereien. Das nur wenige Kilometer entfernte Ufer des Luganer Sees mit seiner urbanen Hektik und touristischen Aufgekratztheiten scheint weit entfernt zu sein.

REISE-INFOS

Allgemeine Informationen: Schweiz Tourismus: Tel. 00800/10020030 (gebührenfrei), www.myswitzerland.com oder Malcantone Turismo, Caslano am Luganer See, Tel. +41 91606 2986, www.malcantone.ch.
Unterkunft und Restaurant Albergo San Michele direkt am Kastanienweg in Arosio (Tel. +41 91609 1938, www.sanmichele.ch). Das Doppelzimmer mit Frühstück und Balkon kostet 114 Franken, ausgezeichnete Abendmenüs mit Kastaniengerichten ab 24 Franken. Hotel und Restaurant Il Castagno in Mugena, Via Cantonale (Tel. +41 91611-4050, www.ilcastagno.ch), so etwas wie das öffentliche Zentrum des Malcantone. Hier trifft man sich zum Pizza-Essen und auf ein Glas Wein. Die neuen Doppelzimmer kosten 160 Franken (mit Frühstück).
Einkaufen: Bei Erboristi Lendi in Curio (Tel. +41 91606 7170, www.erboristi.ch) werden diverse Kastanienprodukte verkauft.

 

(VN – U.Traub)

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