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Deutschland: Müntefering gibt auf

SPD-Chef Franz Müntefering zieht sich nach einer parteiinternen Abstimmungsniederlage zurück, Stoiber will nicht mehr nach Berlin. SPD unter Zeitdruck | Schwere Führungskrise

Mit diesem Paukenschlag gerät die Partei in eine ihrer schwersten Führungs- und Richtungskrisen und geht geschwächt in die Schlussphase der Gespräche mit der Union. Der 65-jährige Müntefering will die Verhandlungen weiterführen. Er ließ am Montag aber offen, ob er wie geplant als Vizekanzler und Arbeitsminister ins Kabinett wechselt. Stoiber will nach dem Rückzug Münteferings nicht mehr in die neue deutsche Regierung wechseln.

Wie die Tageszeitung „Die Welt“ (Dienstag-Ausgabe) unter Berufung auf CSU-Kreise berichtete, gehe Stoiber davon aus, dass es „in Zukunft eine ganz andere SPD geben wird als bisher unter Müntefering“. Der Rückzug des SPD-Chefs bedeute, dass die Grundlage für Stoibers Wechsel nach Berlin entfallen sei. In den Parteikreisen sei darauf verwiesen worden, „dass Stoiber mit Müntefering ein persönliches Vertrauensverhältnis verbindet“. Eine Bestätigung aus der CSU war zunächst nicht zu erhalten.

Unter dem Eindruck des Rückzugs von Müntefering setzten Union und SPD am Montag in Berlin ihre Koalitionsverhandlungen fort. Zum vierten Mal trafen sich die Verhandlungspartner in großer Runde mit jeweils 16 Unterhändlern. Der amtierende Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) sagte vor Verhandlungsbeginn zum Ausscheiden Münteferings: „Ich bedauere das sehr“. Er werde alles dafür tun, dass die Koalitionsverhandlungen wie geplant bis Mitte November abgeschlossen würden. Die Verhandlungen müssten jetzt noch effektiver und zielgerichteter geführt werden.

Unmittelbar nach seiner Rückzugsentscheidung informierte Müntefering die CDU-Vorsitzende und designierte Kanzlerin Angela Merkel. „Ich will, dass die Koalition zu Stande kommt“, sagte Müntefering. „Ich werde nicht weglaufen.“ Müntefering hatte die SPD-Spitze im März 2004 von Schröder übernommen. Auf dem Parteitag in Karlsruhe Mitte November wird der Vorstand turnusgemäß neu gewählt. Müntefering kandidiert dann nicht mehr.

Namhafte SPD-Politiker reagierten geschockt auf den angekündigten Rücktritt und bemühten sich um einen schnellen Neuanfang. Als Favoriten für die Müntefering-Nachfolge gelten Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck und der rheinland-pfälzische Regierungschef Kurt Beck. Müntefering will die Koalitionsgespräche „mit aller Kraft“ zu Ende führen. Union, FDP und Sozialdemokraten selbst bezeichneten die SPD als geschwächt. Die Grünen sprachen von einer „Selbstenthauptung“.

Müntefering stürzte über die klare Entscheidung des Parteivorstands für die Parteilinke Andrea Nahles als neue Generalsekretärin. Die 35-Jährige setzte sich in geheimer Kampfabstimmung im 45-köpfigen SPD-Vorstand mit 23 zu 14 Stimmen gegen Münteferings Vertrauten Kajo Wasserhövel durch. Schröder hatte vergebens vor einer Beschädigung Münteferings gewarnt und Wasserhövel unterstützt. Nach einer von ihm einberufenen Krisensitzung der engeren Parteiführung sagte Müntefering: „Unter den gegebenen Bedingungen kann ich nicht mehr Parteivorsitzender sein. Dafür war das Ergebnis zu eindeutig und zu klar“.

Sein Plan sei gewesen, in den nächsten vier bis fünf Jahren „die Erneuerung und Verjüngung der Parteispitze zu vollziehen“. Unter den gegebenen Umständen werde „dies nun schneller gehen“, sagte Müntefering. SPD-Präsidium und Parteivorstand wollen am Mittwoch über einen Personalvorschlag für die SPD-Spitze beraten.

Der Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises in der SPD, Johannes Kahrs, sprach von einer „gigantische Dummheit“. „Hier wird der Parteivorsitzende der Eitelkeit von Andrea Nahles geopfert.“ Dies sei auch eine Schwächung der SPD in den Koalitionsverhandlungen. Fraktionsvize Ludwig Stiegler sagte: „Es ist ein Unfall passiert, weil Leute entschieden haben, ohne das Ende zu bedenken“. Sein Amtskollege Joachim Poß sagte, er könne die Naivität mancher hochrangiger Sozialdemokraten „nicht nachvollziehen“.


Vom Jungsozialisten zum designierten Vizekanzler

Die überraschende Rücktrittsankündigung des deutschen SPD-Parteichefs Franz Müntefering markiert das Ende einer langen Karriere. Stationen auf dem Weg des heute 65-Jährigen:

Juni 1975: Müntefering wird erstmals Mitglied des Deutschen Bundestags. Er gehört ihm durchgängig bis 1992 an. 1998 erhält er erneut ein Mandat.

1991: Wahl zu einem der Parlamentarischen SPD-Geschäftsführer. Außerdem wird in den Parteivorstand gewählt.

Juni 1992: Mit 97,3 Prozent der Stimmen wird der Politiker an die Spitze des SPD-Bezirks Westliches Westfalen gewählt.

Dezember 1992: Als Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales wechselt Müntefering in die nordrhein-westfälische Landesregierung. Bei der Landtagswahl 1995 wird diese bestätigt, er bleibt im Amt.

1995: Müntefering wird SPD-Bundesgeschäftsführer. Er behält sein Landtagsmandat in Nordrhein-Westfalen und bleibt SPD-Bezirkschef.

1998: Im Bundestagswahlkampf gehört er zum Kernteam um den SPD-Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder.

Oktober 1998: Im ersten rot-grünen Bundeskabinett Schröder wird er Verkehrsminister, hat aber wegen Etatlücken wenig Spielraum.

September 1999: Das SPD-Präsidium bestimmt Müntefering für das neu geschaffene Amt des Generalsekretärs. Im Dezember wird er mit 94,6 Prozent der Stimmen gewählt. Seinen Ministerposten gibt er ab.

September 2001: Nach einer Bundestagsabstimmung über die Beteiligung der Bundeswehr am Mazedonien-Einsatz übt Müntefering Druck auf die 19 Nein-Sager aus der SPD aus. Es hagelt Kritik.

November 2001: Müntefering wird als Generalsekretär bestätigt.

September 2002: Nach dem Sieg von Rot-Grün bei der Bundestagswahl wählt die SPD-Fraktion ihn zu ihrem Vorsitzenden.

März 2004: Nach Wahlniederlagen und innerparteilicher Kritik gibt Kanzler Schröder sein Amt als SPD-Parteichef an Müntefering ab.

April 2005: Müntefering stößt mit scharfer Kritik am Kapitalismus und überzogenen Managergehältern eine Debatte an. Sein Vergleich von Finanzinvestoren mit „Heuschrecken“ erregt Aufsehen.

Mai 2005: Unmittelbar nach der schweren SPD-Wahlniederlage bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen kündigt er nach Absprache mit Schröder eine vorgezogene Bundestagswahl an.

Juli 2005: Bei der absichtlich verlorenen Vertrauensfrage des Kanzlers Schröder im Bundestags folgt nur ein Teil der SPD-Abgeordneten Münteferings Empfehlung, sich der Stimme zu enthalten.

September 2005: Zwei Tage nach der vorgezogenen Bundestagswahl wird Müntefering als Fraktionsvorsitzender bestätigt.

Oktober 2005: Im Rahmen der Koalitionsverhandlungen stellt Müntefering die SPD-Minister für eine schwarz-rote Regierung vor. Er selbst soll Vizekanzler und Minister für Arbeit und Soziales werden. Als künftigen Generalsekretär schlägt er Kajo Wasserhövel vor.

31. Oktober: Wasserhövel fällt im SPD-Vorstand klar durch. Müntefering kündigt daraufhin seinen Rückzug als SPD-Chef an.

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