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"Bildungspolitik erinnert an Planwirtschaft!"

Diese Woche wird es für 863 SchülerInnen in Vorarlberg ernst.
Diese Woche wird es für 863 SchülerInnen in Vorarlberg ernst. ©APA
Schwarzach - 863 Schüler­Innen treten im Ländle zur Zentral­matura an. W&W hat aus diesem Anlass mit Dr. Christoph Jenny, Bildungsexperte und Direktor-Stv. der WKV, gesprochen.

WANN & WO: Ist unser Bildungs­system in der heutigen Form noch „up to date“?

Christoph Jenny: Betrachtet man die Entwicklung der Lebens- und Arbeitswelt in den vergangenen Jahrzehnten, fällt auf, dass sich vieles verändert hat. Diese Entwicklung hat das Bildungssystem nicht adäquat mitgemacht, weshalb unser Schulsystem in der aktuellen Form nicht mehr zeitgemäß ist. Wir müssen Bildung dort gestalten, wo sie passiert! Eine Bildungspolitik, die über vier Verwaltungsebenen „top down“ Vorschriften macht, erinnert schon fast an Planwirtschaft. Die Geschichte hat gezeigt, dass solche Strukturen nicht funktionieren.

WANN & WO: Welche Rolle spielt hier die Zentralmatura?

Christoph Jenny: Die Zentral­matura hat durchaus positive Aspekte. Be­­sonders von der vorwissenschaftlichen Arbeit über ein größeres Themengebiet profitieren die Schüler­Innen sehr. So müssen sie sich mit einer neuen Herausforderung auseinandersetzen, die ihnen auf ihrem weiteren Berufs- oder Bildungsweg wieder begegnen wird. Sehr positiv ist auch, dass es sich um eine sehr kompetenzorientierte Prüfung handelt. Andererseits bleibt sehr kritisch zu betrachten, ob die Einheitlichkeit über Bundesländergrenzen und Schultypen hinaus Sinn macht. Natürlich braucht es Standards, aber wenn Betriebe oder gar Schulen nicht mehr wissen, was welches Zeugnis wert ist, wird es schwierig.

WANN & WO: Ist die Kritik, durch die Zentralmatura würde das Mittelmaß gefördert, gerechtfertigt?

Christoph Jenny: Wenn es gelingt, in den zwölf Jahren vor der Matura die Potenziale entsprechend zu fördern und Grundkentnisse zu vermitteln, muss sich niemand vor der Zentralmatura fürchten.

WANN & WO: Sollte Bildung dennoch individueller sein?

Christoph Jenny: Wir sollten vor allem darauf achten, dass sich Heranwachsende unterschiedlich entwickeln. Zu identifizieren, welche SchülerInnen wann welchen Herausforderungen gewachsen sind, sollte ein wichtiger Teil der pädagogischen Kompetenz sein. Mit solchen Ansätzen sollte man auch den klassischen Frontalunterricht hinterfragen.

WANN & WO: Wie könnte so ein individueller Unterricht aussehen?

Christoph Jenny: Dieser muss nicht unbedingt von den Lehrern kommen. Derzeit haben wir an vier Schulen in der Hofsteigregion eine Kooperation mit Göttingen, wo sehr erfolgreich mit Tischgruppen gearbeitet wird. Jeweils sechs SchülerInnen mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen arbeiten miteinander und helfen sich gegenseitig. Das führt dazu, dass sie sich fachlich verbessern. Ihre Sozialkompetenzen, Teamfähigkeit sowie das Selbstwertgefühl profitieren ungemein von dieser Unterrichtsform. Das sind Eigenschaften, die für das Berufsleben ebenso wichtig sind, wie die Beherrschung von Grundkompetenzen.

WANN & WO: Welche Anforderungen stellen Betriebe an SchülerInnen?

Christoph Jenny: An den Grund­fähigkeiten kommt natürlich niemand vorbei. Entsprechende Standards sollten das sicherstellen. Auch ein Maler muss eine Fläche berechnen können und abschätzen, wie viel Farbe er braucht. Dennoch richten viele Unternehmen ihren Fokus weg von den Zeugnissen – auch weil die neuen Benotungssysteme für sie schwer nachvollziehbar sind – hin zu Sozialkompetenzen, Motivation und dergleichen. Daher sind Schnuppertage und Aufnahmetests viel wichtiger geworden. So sind die Auswahlprozesse deutlich individueller.

WANN & WO: Hat man mit Matura oder mit Lehre bessere Jobchancen?

Christoph Jenny: Das kann man so nicht beantworten. Die Matura ist für viele nach wie vor attraktiv, das sieht man bei den Anmeldezahlen. Dennoch sollte auch hier individuell entschieden werden. Wenn die Schule eine Qual ist, wäre eine Lehre wohl die bessere Wahl. Es ist fatal, wenn Kinder am falschen Platz landen. Wie sich das auswirken kann, sehen wir an den dramatischen Dropout-Quoten von höheren Schulen.

WANN & WO: Was wäre denn Ihrer Meinung nach das ideale Bildungssystem?

Christoph Jenny: Das pauschal zu sagen, ist kaum möglich. Klar ist für mich aber: Gute Bildung ist jene, die ein Wirtschaftsstandort braucht. So bleiben Angebot und Nachfrage bei der Beschäftigung in einem vernünftigen Verhältnis, wovon am Ende alle profitieren.

Zahlen zur Zentralmatura

19.164 Maturanten an 334 Gymnasien in Österreich absolvieren die Zentralmatura.

270 Minuten dauern die Prüfungen in der Regel. In Unterrichtssprachen sind 300 Minuten Zeit.

180.000 Aufgabenhefte wurden in einer geheimen Druckerei hergestellt.

10 Tage dauert es, bis die Schüler­Innen ihre Prüfungsergebnisse spätestens erfahren.

(WANN & WO)

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