“Zunächst muss man sagen, dass derzeit alles, was man sagt, Spekulation ist und bleibt”, betonte Doering, Leiter der Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie der MedUni Wien im AKH, Donnerstag am späten Nachmittag gegenüber der APA. Man sollte sich aber eines Faktums rund um die menschliche Psyche bewusst sein: “Es gibt nichts, was es nicht gibt.”
Aggressivität spricht nicht für Depression
Die extreme Aggressivität der Tötung der eigenen Person und fast 150 anderer, fremder Menschen spricht laut dem Experten wenig für einen Suizid infolge einer depressiven Erkrankung. “Der Depressive hat an sich schon Schuldgefühle. Für einen schwer depressiven Menschen wäre es ungewöhnlich, so viele andere Menschen mit in den Tod zu reißen.” Zwar sei der Suizid eine gegen sich und manchmal auch gegen die nächsten Angehörigen gerichtete Aggression, aber solche Ausmaße wie bei dem Flugzeugunglück derzeit vermutet, wären sehr atypisch.
Schizophrenie wäre mögliches Krankheitsbild
Doering betonte, dass – so die Abläufe wirklich so gewesen seien, wie die derzeitigen Hypothesen lauten – bei vorliegenden psychischen Störungen eher an ein “psychotisches Krankheitsbild” zu denken sei. Da komme es manchmal zu einem Verlust der Kontrolle über die Realität, zum Beispiel unter dem Einfluss von “Stimmen”, die etwas befehlen würden. Eine Schizophrenie sei ein mögliches, aber nur eines von mehreren psychotischen Krankheitsbildern. Eine weitere Möglichkeit wäre auch noch eine schwere Persönlichkeitsstörung.
Gespräche auf Recorder passen nicht zu Theorie
Nicht wirklich zu diesem Bild passt, dass es bisher gut belegte Berichte gibt, wonach sich Pilot und Co-Pilot der Germanwings-Maschine vor der Tragödie 20 Minuten lang im Cockpit normal unterhalten haben. Psychische Störungen sind nicht “auf Knopfdruck” da oder wieder weg.
Nicht außer Betracht lassen dürfe man bei den bisher bekannten Sachverhalten aber auch eine Möglichkeit, an die man ebenfalls zu denken habe, so Doering: “Das ist die Möglichkeit einer solchen Tat aus einem politischen Motiv.” Für politisch motivierte Selbstmordattentäter gelten ganz andere Maßstäge. “Psychopathologisch ist das aber auch”, sagte der Wiener Experte.
Pilotengewerkschaft zweifelt an Selbstmord
Die deutsche Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit (VC) hat davor gewarnt, den Absturz der Germanwings-Maschine bereits als Selbstmord des Co-Piloten einzustufen. Bei den neuen Erkenntnissen der Ermittler handle es sich um “einen ersten Zwischenbericht”, sagte VC-Sprecher Jörg Handwerg dem “Handelsblatt” (Online-Ausgabe) am Donnerstag. “Viele Fragen sind noch offen.”
Nichts über technischen Zustand bekannt
Nach Angaben der französischen Ermittler steuerte der Co-Pilot die Maschine offenbar absichtlich in die Katastrophe. “Woran macht man beispielsweise fest, dass der Sinkflug vorsätzlich eingeleitet wurde?”, sagte Handwerg dem “Handelsblatt”. “Aus unserer Sicht sind noch andere Möglichkeiten als Vorsatz denkbar.” So sei noch nichts über den technischen Zustand des Flugzeugs bekannt. “Deshalb brauchen wir eine Auswertung des Flugdatenschreibers”, mahnte Handwerg vor vorschnellen Schlüssen.
Die Gewerkschaft des Kabinenpersonals UFO e.V. erklärte hingegen, sie habe “keine Erkenntnisse, die der Darstellung der Staatsanwaltschaft in Frankreich entgegenstehen”. In einer Mitteilung der Flugbegleitergewerkschaft hieß es: “Es muss also davon ausgegangen werden, dass tatsächlich dieses Einzelschicksal, über dessen Hintergründe noch nichts bekannt ist, zu dieser Tragödie geführt hat.”
(APA)
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