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70 Jahre danach: Sudetendeutsche erzählen von der Vertreibung

Zeitzeugin: "Da war mit 12 Jahren ganz plötzlich auch meine Kindheit zu Ende."
Zeitzeugin: "Da war mit 12 Jahren ganz plötzlich auch meine Kindheit zu Ende." ©Wikipedia/František Krátký
"Es wird mir immer im Gedächtnis bleiben, wie sie uns damals aus dem Zugwaggon in die 'Freiheit' entließen und mein Vater mit seinem Herzfehler im Straßengraben zusammenbrach. Mir wurde in dem Moment bewusst, dass jetzt meine Heimat weg ist und ich obdachlos bin", erzählt Erika Örtel. Sie wurde 1933 in der Nähe von Liberec, auf Deutsch Reichenberg, im heutigen Tschechien geboren und am 13. Juli 1945 aus ihrer Heimat vertrieben. "Da war mit 12 Jahren ganz plötzlich auch meine Kindheit zu Ende."

2015 ist das Jahr, in dem nicht nur das Ende des Zweiten Weltkrieges, sondern auch die Vertreibung der Sudetendeutschen 70 Jahre zurückliegt. Noch können Zeitzeugen aus ihrem Leben und dieser so wesentlichen Geschichtsepoche berichten. “Nach all dieser Zeit ist es aber selbst für uns Zeitzeugen wahnsinnig schwer, noch von den schrecklichen Emotionen von damals zu berichten. Die Natur hat uns hier mit der Verdrängung eine Möglichkeit gegeben, weiterzumachen”, betont Örtel im Gespräch mit der APA.

“Von einem Tag auf den anderen”

Rückblickend schildert die heute 82-Jährige die Ereignisse als “perfektionierte Vertreibung” und erinnert sich, dass alles sehr schnell ging. “Von einem Tag auf den anderen war die Rechtslage in tschechischer Hand, wir konnten nicht mehr in die Schule gehen. Wir mussten weiße Armbinden tragen mit einem ‘N’ für nemec, also Deutscher.” Auch die Verwendung der öffentlichen Verkehrsmittel wurde ihnen umgehend untersagt und die deutschen Männer wurden zu “Hunger- und Todesmärschen” gezwungen, geprügelt, erschossen.

Flucht nach Mauthausen

Reiner Elsinger wurde 1932 in Nikolsburg, dem heutigen Mikulov, geboren. Auch er war damals mit 12,5 Jahren gemeinsam mit seiner Mutter aus seinem Heim vertrieben worden. Zuvor auf der Flucht vor der Verlagerung der Frontlinie versuchten sie, nach Kriegsende am 8. Mai wieder in ihr Heim zu kommen. Sie waren zu spät, das Eigentum und Haus der Familie war bereits in tschechischer Hand. “Die Vertreibung hatte schon begonnen und wir entschlossen uns weiter Richtung Westen zu fliehen und sind bis nach Mauthausen gelangt.”

Fast jeden Tag der Flucht hat Elsinger noch in Erinnerung: “Für mich war es irgendwie auch ein Abenteuer. Mit 13 Jahren ist man ja noch von Karl May geprägt. Aber meine Mutter hat gesagt, sie hätte sich umgebracht, wenn sie mich nicht gehabt hätte.” Sie schafften es über die amerikanische Demarkationslinie und mit einem der ersten Züge nach Linz, wo sie neben anderen Landsleuten über die damals nachmittäglich vom Roten Kreuz im Radio ausgestrahlten Nachrichten schließlich weitere Verwandte, einen acht Jahre älteren Bruder von ihm sowie zwei Tanten in Vöcklabruck ausfindig machten.

“Weg in ziviles Leben in Österreich war besonders schwierig”

“Der Weg in ein ziviles Leben in Österreich war besonders schwierig und hat sich zehn Jahre hingezogen. Erst 1951 wurde die erleichterte Staatsbürgerschaft erteilt, auch andere Gleichberechtigungen folgten nur zögerlich”, berichtet Elsinger. “Wir hatten nichts und mussten betteln gehen.” Es gab kaum Arbeitsmöglichkeiten und keine Chance auf Schulbildung. Im selbst wurde der Besuch eines Gymnasiums zuerst verwehrt, da nur österreichische Staatsbürger zugelassen waren. Erst später absolvierte er seine Ausbildung und begann als Ingenieur zu arbeiten.

Großvater schaffte es nicht zum Rest der Familie

Der 83-Jährige lebt heute in Perchtoldsdorf ist Geschäftsführer der Südmährer Kulturstiftung und Gestalter der aktuellen Ausstellung “70 Jahre Vertreibung” am Südmährerhof im Weinviertler Museumsdorf Niedersulz. “Wir verfügen über hunderte Zeitzeugenberichte aus Südmähren und etwa 55 Interviews sind in der Ausstellung präsentiert.” Besonders schlimm sei es damals für die am Krieg wirklich Unbeteiligten gewesen. Sein Großvater väterlicherseits etwa wurde mit einem der “Viehtransporte” aus der Heimat abtransportiert und starb völlig vereinsamt und verarmt in Bayern, er hatte es nicht mehr über die Grenze zum Rest der Familie nach Österreich geschafft.

Örtel und ihre Familie waren nach ihrer Vertreibung und Freilassung aus dem Transport ein Jahr in der ehemaligen DDR, danach konnten sie nach Bayern übersiedeln. 1960 heiratete sie schließlich nach Wien, die Heimat ihrer Eltern, und wurde Mutter eines Sohnes. Ihre Erinnerungen hat sie verschriftlicht und als Biografie veröffentlicht, nachdem sie einen halben Tag in ihre ursprüngliche Heimat zurückgekehrt war. “Bis zu meinem 34. Lebensjahr habe ich mich, egal wo wir sesshaft waren, immer wie auf Besuch gefühlt. Erst als mein Sohn auf die Welt kam, hatte ich das Gefühl hier in Wien wieder Wurzeln geschlagen zu haben.” (APA)

  • Örtel Erika, Biografie “Ausweisung: 53 Jahre danach”, Verlag novum publishing gmbh 2009
  • Ausstellung “70 Jahre Vertreibung” im Südmährerhof, Museumsdorf Niedersulz, www.museumsdorf.at
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