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100. Geburtstag von George Orwell

Genau 50 Jahre, vom Erscheinungsjahr 1949 bis 1999, stand der "Große Bruder" aus George Orwells "1984" für die Horrorvision des totalen Überwachungsstaats.

Nun steht er für „Big Brother“. Die Reality-Soap des holländischen Produzenten John de Mol ist wohl die Rache der Unterhaltungsindustrie an einem Schriftsteller, der Massenkultur zeitlebens verachtet hat. Am Mittwoch (25. Juni) wäre Orwell 100 Jahre alt geworden.

Der Mann, der als George Orwell starb, wurde 1903 als Eric Blair geboren. Der Sohn eines englischen Beamten in Britisch-Indien entschied sich 1922 zunächst für eine Laufbahn bei der Kolonialpolizei. Der Wendepunkt kam, als er beobachtete, wie ein zum Tode Verurteilter auf dem Weg zum Galgen noch einer Pfütze auswich. Dies berührte ihn so tief, dass er seinen Dienst quittierte und den Imperialismus fortan bekämpfte. In Europa verdingte er sich als Tellerwäscher, hauste in Elendsvierteln und schrieb darüber seinen sozialkritischen Erstlingsroman “Down and Out in Paris and London”.

Einer Freundin übergab er das Manuskript mit den Worten: “Schmeiß es weg, aber behalt’ die Heftklammern.” Sie bot es stattdessen einem Verlag an, und der links orientierte Herausgeber Victor Gollancz entschied sich 1932 zur Veröffentlichung. Blair war dies so peinlich, dass er ein Pseudonym für sich erfand – George Orwell.

1936 verkaufte er das Familiensilber, um nach Barcelona reisen zu können: Im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte er auf Seiten der Republikaner gegen Francos Faschisten, bis ihm eine Kugel den Hals durchbohrte. Er überlebte knapp. Mehr als das prägte ihn die Erfahrung, dass die spanischen Kommunisten in Barcelona bald jeden Abweichler mit dem Tod bedrohten. Zurück in England, wetterte er gegen den Mittelklasse-Sozialisten „mit Pullover, zerzausten Haaren und ständigen Marx-Zitaten“, umgeben von „Obstsaft-Trinkern, Nudisten, Sandalen-Trägern, Naturheilern, Pazifisten und Feministen“.

Das literarische Ergebnis seines Spanien-Abenteuers war „Animal Farm“ (Farm der Tiere), die wohl bekannteste Allegorie des 20. Jahrhunderts. Die Tiere eines Bauernhofs rebellieren gegen den Bauern – nur um künftig von einer Schweine-Elite unterdrückt zu werden. Die Satire auf Stalins Sowjet-Kommunismus erschien erst 1945, als die Kriegsallianz der USA und Großbritanniens mit der Sowjetunion zerbrach und Orwell als Reporter aus dem zerbombten Köln berichtete.

Fast 30 Kilometer vom nächsten Telefon entfernt, begann der nunmehr schon schwer kranke, Kette rauchende Tuberkulose-Patient auf einer nordschottischen Insel mit der Arbeit an “1984“. Auf die Jahreszahl kam er, indem er die beiden letzten Ziffern des laufenden Jahrs 1948 umdrehte. „Ich bekomme den Eindruck, dass das Buch ihn umbringt“, bemerkte eine Beobachterin. Als das letzte Kapitel fertig war, brach er zusammen. Er erlebte noch, wie der Zukunftsroman zum Bestseller wurde – dann starb er 46-jährig kurz nach seiner zweiten Heirat. „Willst du nicht die Witwe eines Literaten werden?“ hatte sein Antrag gelautet.

Unter dem Eindruck des Kalten Krieges war Orwell zum Schluss so weit nach rechts gerückt, dass er auf dem Sterbebett für den britischen Geheimdienst noch eine Liste mit den Namen von 105 Linksintellektuellen erstellte, die er als Kommunisten verdächtigte – darunter Charlie Chaplin und Orson Welles. „Neigt zur Homosexualität“, schrieb er hinter einen Namen. Kurz nach Orwells Tod überließ seine Witwe die Filmrechte für „Animal Farm“ dem amerikanischen Geheimdienst CIA – unter der Bedingung, einmal den Filmstar Clark Gable zu treffen.

Seitdem ist Orwell eine Ikone der Rechten wie der Linken. “1984“ etwa wurde von amerikanischen Kommunisten-Jägern und britischen Thatcheristen ebenso vereinnahmt wie von deutschen Datenschützern und Gegnern von Überwachungskameras. Daran ist der Autor, der sich selbst immer nur vage zu einem „demokratischen Sozialismus“ bekannte, sicher nicht unschuldig. „Er starb als tapferer Wächter gegen den Totalitarismus der Zukunft“, urteilt sein Biograf Scott Lucas. „Aber ein Wächter, der unfähig war, Pessimismus und Angst irgendeine positive Alternative gegenüberzustellen.“

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